Jessica Tepass konnte weder lesen noch schreiben. Dafür schämte sie sich, andere sollten es nicht merken. „Selbst mein Lebensgefährte ahnte fast zwölf Jahre nichts“, sagt sie. Über das „Alphanetz NRW“ kam die 37-Jährige an einen Alphabetisierungskurs an der Volkshochschule (VHS): „Seit eineinhalb Jahren kann ich lesen und schreiben.“ Heute setzt sich Jessica Tepass für gering literarisierte Menschen ein, also Menschen mit ausgeprägten Lese- und Schreibschwierigkeiten.
Tepass weiß, wie schwierig es ist, Analphabetismus zu überwinden. Bei ihrem ersten Kurs des 2014 gegründeten „Alphanetzes“ kam sie mit dem Lehrer nicht klar und brach ab. Vor drei Jahren nahm sie einen neuen Anlauf. Am Ende des Kurses konnte sie umfangreiche Texte lesen. Endlich musste sie sich nicht mehr verstellen. Wenn es darum ging, etwas zu lesen, muss sie nicht mehr flunkern: „Sorry, aber ich habe gerade wahnsinnige Kopfschmerzen.“
Über 10 Prozent können nicht richtig schreiben und lesen
Das „Alphanetz NRW“ ist Teil der sogenannten AlphaDekade der Bundesregierung. Sie startete 2016 und wird 2026 enden. Hier wird in etlichen Projekten bundesweit versucht, gering literarisierte Menschen zu bilden. Das „Alphanetz“ erreichte mit mehr als 150 Veranstaltungen nach eigenen Angaben bislang rund 2.600 Menschen.
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Nach einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018 haben rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Erwachsene im Alter zwischen 18 und 64 Jahren Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Das sind 12,1 Prozent der entsprechenden Gesamtbevölkerung.
In der Nähe von Hamburg engagiert sich die Schleswig-Holsteinerin Martina Rubbel für gering literarisierte Menschen. „Ich selbst habe Legasthenie“, berichtet die 63-Jährige. Diese Störung habe ihr ganzes Berufsleben als Altenpflegerin überschattet: „Ich musste mich ständig gegen Mobbing und Diskriminierung wehren“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Lese- und Schreibkompetenz wichtig im Berufsleben
Seit Herbst engagiert sie sich beim Projekt „INA-Pflege PLUS“ der Berliner Humboldt-Universität. Hier geht es gezielt um die Alphabetisierung in der Altenpflegeausbildung. Laut Regina Ryssel, Projektleiterin von INA-Pflege PLUS, ist Leseschwäche in der Pflegehelferinnenausbildung ein immenses Problem. Durch „INA-Pflege PLUS“ erhalten Dozenten an Pflegeschulen Unterstützung beim Umgang mit gering literarisierten Azubis. Über 500 Interessierte aus der Pflegebildung nahmen nach den Angaben bis heute an den Workshops des Projekts teil.
Ohne ausreichende Lese- und Schreibkompetenz ist der Job in Gefahr, berichtet Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Denn immer mehr Arbeitsplätze würden digitalisiert. Auch das arbeitgebernahe Institut ist an der AlphaDekade der Bundesregierung beteiligt: „AlphaGrund“ nennt sich das 2016 gestartete Projekt zur Alphabetisierung in Betrieben.
Alphabetisierungskurse in den Arbeitsalltag integriert
Dabei entwickeln Bildungswerke des IW auf unterschiedliche Branchen zugeschnittene Schulungsmaterialien. „In der Lebensmittelindustrie zum Beispiel müssen ganz bestimmte Auflagen und lebensmittelrechtliche Vorschriften verstanden werden“, erläutert Plünnecke.
Mit den Weiterbildungen des IW seien in den vergangenen acht Jahren 2.000 Beschäftigte erreicht worden. „AlphaGrund“ ist in den Arbeitsalltag integriert. Das Projekt findet zum Beispiel nach der Frühschicht oder vor der Spätschicht statt.
Ein ähnliches Programm wie das IW bietet die „Technische Akademie für Berufliche Bildung“ in Schwäbisch Gmünd an. „Wir organisierten inzwischen in über 150 Betrieben Deutschkurse“, berichtet Geschäftsführer Michael Nanz. Auch die Akademie organisiert ihre Kurse nach, vor oder zwischen den Schichten. Nanz: „Die Beschäftigten müssen Geld verdienen, die gehen nicht abends um acht in den Volkshochschulkurs.“