Israel ist im Krieg angekommen. Noch nie zuvor wurde sein Kernland in dieser Weise unter Beschuss genommen werden. Seine politische Führung schwört Vergeltung. Wie weit der Rückhalt im Volk reicht, ist ungewiss.
Wieder haben Raketen aus dem Iran Städte in Israel getroffen. Einschläge unter anderem in der arabisch-israelischen Stadt Tamra in Galiläa, in der Küstenstadt Bat Jam und in Rehovot süd-östlich von Tel Aviv forderten am Sonntag mindestens elf Menschenleben. Erst am Nachmittag konnten Retter die Leiche eines siebten Opfers aus den Trümmern des Hochhausblocks in einem Wohngebiet Bat Jams bergen. Drei weitere Personen werden weiterhin vermisst.
Die Sorge vieler Israelis, dass der iranische Gegenschlag an Fahrt aufnehmen könnte, hat sich bewahrheitet. Schwerer Staub von der Explosion legt sich über das Gebiet. Mehrere Straßenzüge vor der eigentlichen Einschlagstelle hat die Druckwelle Glasscheiben splittern lassen. “Kein Krieg” hat jemand mit dem Finger in den Explosionsstaub auf einer Autoscheibe geschrieben, darunter ein Name in kyrillischen Buchstaben – angesichts der anhaltenden Kampfhandlungen ein hehrer Wunsch.
Nach Stunden der Ruhe warnten am Samstag ab kurz vor Mitternacht erneut die Luftalarmsirenen. Zuerst in Galiläa im Norden, dann in Eilat im Süden und schließlich entlang der Küste und in den meisten Landesteilen schickte Beschuss aus dem Iran die Menschen in die Schutzräume. Die Detonationen der Raketen-Abschüsse im Luftraum über Tel Aviv sind dumpf zu hören, manche auch zu spüren. In den Schutzräumen von Hotels in der Innenstadt, die auch Anwohnern als Zuflucht dienen, erscheinen junge Leute mit Snacks und Wodka-Mixgetränken.
So glimpflich ging es nicht für alle aus. In Bat Jam, knapp acht Kilometer südlich, reißt der Einschlag einer Rakete einen kompletten Flügel eines zwölfstöckigen Wohnhauses ab. Spätestens jetzt ist klar: Israel erlebt den schwersten Angriff auf sein Kernland seit über einer Generation. “So etwas gab es noch nie”, sagt ein junger Soldat. Er ist lange nach dem Yom-Kippur-Krieg von 1973 geboren. Noch Stunden nach dem Treffer suchen Rettungsmannschaften mit schwerem Gerät nach Überlebenden. Einmal, am Mittag, werden die Arbeiten mit Motorflex und Presslufthammer unterbrochen, um nach Lebenszeichen unter dem Schutt zu horchen. Vergeblich.
Vor dem Kran, mit dem die Helfer große Trümmerteile heben, stauen sich unterdessen Konvois israelischer Spitzenpolitiker: Präsident Isaac Herzog, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Infrastrukturminister Eli Cohen und Verteidigungsminister Israel Katz schwören am Unglücksort, der iranischen Bedrohung ein Ende zu setzen. Netanjahu sieht Israel in einem “existenziellen Kampf” und kündigt einen Krieg mit aller Kraft an. “Der Iran wird einen sehr hohen Preis für die vorsätzliche Ermordung von Zivilisten, Frauen und Kindern zahlen”, so der Regierungschef.
Präsident Herzog nutzt die Gelegenheit, um die sieben großen Industrienationen hinter Israel zu bringen. Am Montag treffen sie sich zum G7-Gipfel in Kanada. Herzogs Appell: Sie sollten “besser mit uns zusammenarbeiten”, um die nuklearen Bestrebungen des Iran ein- für allemal zu unterbinden. Auch der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, erscheint an der Trümmerstätte und ruft himmlischen Beistand herab. “Mit Gottes Hilfe” werde Israel gewinnen, sagt er in seiner Botschaft, die er auch über soziale Medien verbreitet.
Nach dem Besuch macht der bullige Chef der rechtsextremen Partei “Jüdische Stärke” einen Rundgang durchs Viertel, sucht Kontakt zu den Menschen. Einer ruft den Minister heran: “Komm her, mein Freund!” Ben-Gvir kommt, schüttelt Hände, klopft Schultern. Es wirkt herzlich. Der Schein trügt. Zu autonom, meint ein Anwohner, nachdem der Minister weg ist, gebärdet sich die Regierung. “Bevor ein neues Eis auf den Markt kommt, testet man, ob es den Leuten schmeckt”, sagt der Mann. Etwas, was er bei den Akteuren seines eigenen politischen Lagers in der Landesführung inzwischen vermisst. An diesem bitteren Tag für Bat Jam zeigt auch der Rückhalt der Bevölkerung Risse