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Im Bahnhofstrubel nur die Klienten im Blick

„Wenn alle von einer gemütlichen, ruhigen und warmen Adventszeit sprechen, stürzen Menschen mit psychischen Krankheiten häufig in Krisen“, sagt Michelle Jaß. Die Streetworkerin erlebt gerade jetzt wohnungslose Klienten, die der adventliche Trubel im Hauptbahnhof in Nürnberg besonders herunterzieht.

Jaß und ihre Kollegin Annika Zitzmann erklären Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben, wie es zur nächsten Notschlafstelle geht oder bringen sie kurzerhand selbst dort hin. „Wir gucken einfach, dass sie nicht erfrieren.“ Aber alles beruht auf Freiwilligkeit, die Menschen entscheiden selbst. „Wenn sie nicht wollen, ziehen wir uns zurück“, erklärt Zitzmann. Allerdings ist die Adventszeit auch die Zeit, in der die Klienten ihre Hilfeangebote seltener ablehnen.

Die Passanten auf ihrem Weg zum und vom Christkindlesmarkt zwischen den U-Bahneingängen, Drogerien und Imbissläden interessieren Annika Zitzmann und „Mickey“ Jaß nicht. Sie suchen die Menschen, die kein Obdach haben. „Wir kennen unsere Klienten und gehen daher mit einem Tunnelblick durch den Bahnhof.“ Mit manchen der Betroffenen – zu 80 Prozent sind es Männer – verständigen sich die Streetworkerinnen mit Pantomime und Übersetzungs-Apps. „Die Stadt hat eine Unterbringungspflicht“, erklärt Zitzmann. Für jeden müsse zumindest ein Feldbett aufgestellt oder ein Platz für seine Isomatte gefunden werden.

Jaß und Zitzmann arbeiten für das vor neun Monaten gestartete Modellprojekt „Bahnhofsläufer*innen“ der Stadtmission Nürnberg am Brennpunkt Hauptbahnhof. Im Sommer suchten sie obdachlose Menschen auch in den umliegenden Parks, aber im Winter sind die meisten Klienten im Bahnhof anzutreffen. Von den rund 45.000 Wohnungslosen in Bayern leben etwa 2.500 in Nürnberg. 100 Menschen sind dauerhaft auf der Straße.

„Aufsuchende Sozialarbeit und niedrigschwellige Sozialberatung“, beschreibt Zitzmann ihre Aufgabe. „Manchen Menschen sieht man Wohnungslosigkeit nicht an“, ergänzt Kollegin Jaß, „andere sind verwahrlost, psychisch und körperlich im Ausnahmezustand.“ Sie begegnen Suchtkranken und Kranken, verweisen auf die Straßenambulanz, die in Nürnberg Menschen ohne Krankenkassenkarte medizinisch versorgt, oder rufen einen Rettungswagen zum Nottransport ins Klinikum. Manche der Wohnungslosen schaffen es nicht, sich aus eigener Kraft bei einer Behörde zu melden. „Dann begleite ich die Person zu einem Termin bei Ämtern“, berichtet Jaß.

Im ersten halben Jahr des Projekts haben die beiden gut 1.200 Kontakte gehabt, 50 Personen zählen sie zum harten Kern ihrer Klienten. Darunter sind auch Menschen, die noch gar nicht mit dem bestehenden Hilfsangebot in Kontakt gekommen sind. Es gibt Wohnungslose, die sich nicht eingestehen, dass sie selbst ohne Obdach sind. Oder es gibt die, die schlechte Erfahrungen gemacht haben. Kontinuierliche Beziehungsarbeit, bis ihnen die Leute vertrauen, sei ihr täglich Brot, erklären die Streetworkerinnen. „Jeder Klient bestimmt selbst das Tempo beim Beziehungsaufbau“, sagt Zitzmann.

Das Streetwork-Modellprojekt hat die Stadtmission Nürnberg entwickelt, um Menschen in den unterschiedlichsten Notlagen besser mit den bestehenden Hilfsangeboten zu verknüpfen. Mitinitiator Andreas Bott, Einrichtungsleiter „Hilfen für Menschen in Wohnungsnot“ bei der Stadtmission, sagt, das Angebot sei nicht mehr wegzudenken. Man wolle das Leben wohnungs- und obdachloser Menschen stabilisieren und gleichzeitig die sichtbare Obdachlosigkeit reduzieren. Leicht messbar ist der Erfolg der „Bahnhofsläufer*innen“ nicht. Aber die Straßenambulanz hat durch sie Kontakt zu bisher nicht bekannten Klienten. Man bekomme durch das Pilotprojekt auch bisher fehlende Daten.

„Das zweijährige Projekt hat Aufmerksamkeit verdient“, sagt der Chef der Stadtmission, Kai Stähler. Denn „Verdrängung und Vertreibung sind bei Obdachlosigkeit keine Lösung“. Angesichts leerer Kassen der Kommunen sorgt er sich um eine solide Finanzierung. 132.000 Euro erhält die Stadtmission aus einem Fördertopf des Bayerischen Sozialministeriums. Eine Stiftung der Diakonie Bayern hat sich zudem beteiligt. „Aber wir bringen auch selbst Geld mit, damit wir diese Arbeit überhaupt machen können“, sagt Stähler. (3943/16.12.2025)