Alle Probleme der katholischen Kirche in der Missbrauchskrise sind laut dem deutschen Historiker und Theologen Ulrich L. Lehner bereits im 17. und 18. Jahrhundert bekannt gewesen. “Die Jesuiten stellten sich gerne als besonders keuschen Orden dar”, sagte der Buchautor von der renommierten University of Notre Dame in den USA im Interview des Schweizer KNA-Partnerportals kath.ch. “Diese Inszenierung funktionierte, weil man Fälle sexueller Gewalt an Schülern und Ordensmitgliedern geheim hielt.”
Delinquenten habe man einfach in den Weltklerus abgeschoben, obwohl das gegen die Ordensstatuten war, so Lehner. Prominente Täter hingegen habe man im Orden belassen und sie gedeckt. Die Mechanismen seien ähnlich gewesen wie in der aktuellen Missbrauchskrise. Der Historiker: “Auch damals gab es Gerüchte, denen man nicht glauben wollte. Man versetzte die Leute einfach.” Sein neues Buch “Inszenierte Keuschheit” wolle auch dazu anregen, die Polemik gegen Jesuitenschulen als Ort von “Päderastie”, die Historiker nie ernst genommen hätten, nun neu zu überdenken, sagte Lehner.
Die These, Missbrauch in der Kirche sei ein modernes Problem, an dem die 1968er schuld seien, weist der Wissenschaftler und gläubige Katholik Lehner als nachweislich falsch zurück. Pius XII. (1939-1958) sei von einem Mann zum Papst gekrönt worden, den die römische Polizei für einen Päderasten hielt. Sein Vorgänger Pius XI. (1922-1939) sei in fast allen offiziellen Fotografien von zwei hochrangigen Klerikern umgeben, über die man in Polizeiakten Ähnliches lesen könne. Vielleicht sei das Ausmaß von Missbrauch vor 1968 geringer, so Lehner; er maße sich darüber keine statistischen Aussagen an. “Aber dass es solche Fälle gab – und weit mehr als angenommen -, ist eine Tatsache.”
Papst Franziskus stellt der Historiker ein schlechtes Zeugnis im Umgang mit dem Missbrauchsproblem aus. “Papst Franziskus macht nichts besser”, so Lehner. Er verwies auf die jüngste Rehabilitation des US-Bischofs John Nienstedt, bis 2015 Erzbischof von Saint Paul und Minneapolis. “Zehn Jahre nach dessen Rücktritt werden die Gläubigen nun aufgefordert, ohne eine Zeile der Begründung oder jegliche Evidenz, dem obersten vatikanischen Gericht zu vertrauen, dass an den Vorwürfen gegen Nienstedt nichts dran gewesen sein soll”, kritisiert der Historiker.
“Vertrauen ist wie eine Brücke, mittels der man einen Fluss überquert”, sagte Lehnert. Man betrete sie nur, “wenn man gute Gründe hat anzunehmen, dass die Planken nicht morsch sind”. Da man in den vergangenen Jahren immer wieder ins kalte Wasser gefallen sei, brauchten Katholiken heute gute Gründe, sich auf diese Brücke zu wagen.
“Doch autoritär, wie er ist, versteht Franziskus das nicht”, kritisiert der US-Professor. Wie könne man jemandem vertrauen, “für den Transparenz in Missbrauchsfragen ein Fremdwort ist”; oder “der Personen in höchste Ämter befördert, die Missbrauchstäter nachweislich geschützt haben”, wie der Leiter der Glaubensbehörde, Kardinal Victor Manuel Fernandez. “So gewinnt man kein Vertrauen zurück”, urteilt Lehner.