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Historiker: Europa schaut in Sachen Kolonialismus zu sehr zurück

Statuen abbauen oder Straßennamen ändern, um die Geschichte des Kolonialismus aufzuarbeiten? Das hält der Historiker David Van Reybrouck für eine problematische Vorgehensweise. Was er stattdessen vorschlägt.

Der belgische Schriftsteller und Historiker David Van Reybrouck, 53, hält Europa einen falschen Umgang mit dem Thema Kolonialismus vor. “Die Art, wie man in Europa heute mit Kolonialismus umgeht, ist, ihn auf historische Ereignisse zu reduzieren und sich mit den Symbolen der Vergangenheit zu befassen, ohne auf die Strukturen der Gegenwart zu schauen”, sagte Van Reybrouck der “Süddeutschen Zeitung” (Wochenende).

Statuen abzubauen oder Straßennamen zu ändern, sei eine problematische Vorgehensweise, erklärte der Historiker. “Sie erzeugt die Illusion, dass man etwas für die Wiedergutmachung tut und anschließend damit durch ist. Doch das ist ein eher kosmetischer Zugang zum Unrecht. Auch ich finde Symbole wichtig, Monumente und Worte verraten einen Zeitgeist. Aber nur zurückzublicken und dabei nicht dasselbe Verhalten in der Gegenwart zu sehen und dagegen aufzubegehren, erscheint mir hochproblematisch.”

Van Reybrouck führte aus: “Stellen Sie sich zwei Städte vor: In der einen tut der Bürgermeister alles für die sogenannte Dekolonialisierung. Statuen werden abgerissen, Straßennamen umbenannt, Schulbücher aktualisiert. Aber er lässt die Stadt immer noch mit fossilen Brennstoffen heizen und beleuchten. In der anderen Stadt kümmert sich der Bürgermeister zunächst darum, dass die Stadt bis 2030 klimaneutral wird – der zweite Bürgermeister tut meiner Meinung nach mehr gegen Kolonialismus, Diskriminierung und Rassismus als der erste.”

Denn einstige Kolonien seien von den Folgen des Klimawandels überproportional betroffen, so Van Reybrouck weiter. “Aber man muss nicht nach Jakarta oder Kinshasa blicken, um zu sehen, dass Klimawandel rassistisch ist. Sogar in meiner Heimatstadt Brüssel sterben im Hochsommer mittlerweile Menschen wegen der Hitze. Natürlich in den armen Vierteln, in denen vorwiegend Migranten leben. Wo die Bevölkerungsdichte hoch ist, keine Bäume stehen und die Menschen sich keine Klimaanlage leisten können.”