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Heimliche Gebete statt Hirschjagd

Felsbilder in den Alpen und in Skandinavien seien Teil einer unbekannten Bildsprache von protestantischen Glaubensflüchtlingen, sagt der Mainzer Volkskundler Helmut Seebach

Als Helmut Seebach das Hirschsymbol im Eustachius-Fenster im Erfurter Dom sieht, macht es bei ihm Klick. Ein Hirsch trägt den gekreuzigten Jesus mit Strahlenkranz im Geweih.
Plötzlich fügen sich alle Puzzleteile für den Volkskundler aus Mainz zusammen, der sich schon seit Längerem mit der Symbolik an alten Fachwerkhäusern beschäftigt. Auch in Felszeichnungen in den Alpen und in Skandinavien findet sich das Jagdmotiv tausendfach – wie auf Ritzzeichnungen an Holzbalken in Bauernhäusern im Schwarzwald und in der Pfalz.

Geheimnisvolle Zeichnungen

„Der Hirsch steht als Symbol für Christus und seine Anhänger“, sagt der 61-jährige Forscher und Buchautor und kommt zu einem überraschenden Schluss. Nicht Alpenbewohner der Bronze- und Eisenzeit hätten in den heutigen Schweizer und Französischen Alpen die Felswände mit zahllosen Symbolen und Bildern bedeckt, wie es in der Archäologie sakrosankt gilt. „Das ist ein fundamentaler Irrtum der Felsbildforschung“, sagt Seebach, der aus dem südpfälzischen Annweiler-Queichhambach stammt. Vielmehr seien die geheimnisvollen Zeichnungen mit Rauten, Tierdarstellungen, Andreaskreuzen und vielen anderen Symbolen das Werk von protestantischen Glaubensflüchtlingen des 16. und 17. Jahrhunderts aus der Schweiz, Italien und Frankreich.
Diese pietistisch-protestantischen Gruppierungen hätten sich ab 1520 vor Verfolgung und katholischer Inquisition in die alpine Bergwelt gerettet. Da sie ihren reformatorischen Glauben nicht in Kirchen feiern konnten, hätten sie sich für religiöse Zusammenkünfte an markante Felsformationen und in Scheunen zurückgezogen, etwa in Valcamoncia in Italien und Monte Bego in Frankreich. Dort hätten sie mit einer vergessenen und nicht entschlüsselten „pietistischen Bildersprache“ Gottesdienst gefeiert. Ihre bisher als heidnisch bewerteten Symbole hätten einen christlichen Bezug und erzählten biblische Geschichten.
Für seine Thesen führt der Volkskundler Belege aus der Bibel an: Hiob gelte im Alten Testament als Beispiel eines geduldig ertragenen Leidens, auf das am Ende eine göttliche Belohnung folgt. Seine Worte sollen in den Felsen gemeißelt werden, damit sie ewig erhalten blieben (Hiob 19, 21-25). Auch die Glaubensflüchtlinge in der frühen Reformationszeit hätten symbolhaft ihre eigene Lebensgeschichte in den Fels geritzt, sagt Seebach. Mit ihren Bildern riefen sie Gott in einer Situation der Bedrückung an, lautet seine Interpretation. Mit einer Hirschjagd in der Prähistorie habe das Hirschsymbol auf Fels- und Ritzzeichnungen demnach nichts zu tun.
Die von der traditionellen Archäologie verwendeten naturwissenschaftlich-technischen Messverfahren zur Datierung der Felszeichnungen seien zu ungenau, konstatiert der Volkskundler. Für unwahrscheinlich hält er auch die Annahme, dass sich über Jahrtausende hinweg immer neue Bevölkerungsgruppen mit ihren Zeichnungen in den Felswänden verewigt hätten.
Vergeblich sucht der Querdenker bisher die Diskussion mit Archäologen, Historikern – und auch Theologen. Seit der ideologisch vorbelasteten Sinnbildforschung im Dritten Reich würden in Deutschland Fels- oder Ritzzeichnungen nicht mehr als aufschlussreicher Forschungsgegenstand gesehen, bemängelt er.Auch die evangelische Kirche ignoriere, dass sich der Protestantismus als europäische Kulturströmung in der frühen Neuzeit von Süd nach Nord ausgebreitet habe.
Dass die frühen Protestanten in ihrer Alpenzuflucht gerade das Motiv der Hirschjagd aus der Eustachius-Legende wählten, liegt für Helmut Seebach auf der Hand: „Es war ein Sinnbild ihrer eigenen Lebensgeschichte, denn wie Jesus und alle Christen wurden auch sie gejagt.“