In Franz Xaver Bogners Kultserie “Irgendwie und Sowieso” werden die 1960er Jahre in Bayern aufs Schönste lebendig. Tradition trifft hier auf Revoluzzertum. Wie es wirklich war, weiß das Haus der Bayerischen Geschichte.
Ein Tragerl Bier, eine Palette Himbeerjoghurt und dazu ein Plattenspieler – all dies hat Ottfried Fischer in seiner Rolle als Sir Quickly auf den Kirchturm hinauf geschafft. Dort oben gibt sich der niederbayerische Bauernsohn nun über Stunden und unter dem lautstarken Abspielen dröhnender Poprhythmen dem Weltschmerz und der Trauer hin: seinen Lieblingsbullen Ringo, mit dem er als Sieger aus dem Ochsenrennen hervorging, ließ der Vater schlachten. Und seine große Liebe Christl hat ihn versetzt.
Die Szene aus Franz Xaver Bogners Kult-Serie “Irgendwie und Sowieso” hat Geschichte geschrieben. Sie fing eine Stimmung ein, als die Umbrüche nach und nach auch das tiefste Niederbayern erreicht hatten. “Sein Darsteller Ottfried Fischer war einer von uns, einer aus dem Woid, unser Held”, schreibt der Direktor des Hauses der Bayerischen Geschichte, Richard Loibl, im Vorwort des neuen “HDBG-Magazin. Edition Bayern”, das den 1960er Jahren in Bayern gewidmet ist. Der “Sir” stehe für die Generation zwischen den Welten, die noch Bauern gewesen seien, es manchmal sogar sein wollten, aber dann bei BMW zu Industriearbeitern geworden seien.
Der Journalist Hans Kratzer, aufgewachsen im ober-niederbayerischen Grenzland, erinnert sich, dass die Angst vor Hölle und Verdammnis sehr präsent, der Kirchgang unumstößliche Pflicht gewesen sei. “Ungewiss erschien uns das Schicksal der beiden evangelischen Kinder in der Pfarrei. Während des katholischen Religionsunterrichts mussten sie brav vor der Tür des Klassenzimmers ausharren.” Nahte ein Unwetter, seien in der Stube die Wetterkerzen angezündet worden.
Einen Revoluzzer habe es im Markt Velden auch gegeben, weiß Kratzer. Das “Zigarettenbürscherl”, aus dessen Gesäßtasche die Mao-Bibel hervorgelugt sei, habe in sein Lloyd-Cabrio ein paar Knaben eingeladen. “Dann bretterte das Kommando durch den Ort, ‘Ho Ho Ho-Chi-Minh’ skandierend sowie ‘Bürger runter vom Balkon, unterstützt den Vietkong!’.” Danach seien die Kämpfer gen Landshut gefahren, um sich die vom Revolutionsanführer fürs Mitmachen versprochene Currywurst spendieren zu lassen.
Der bayerische Staat förderte derweil den Einbau von Zentralheizungen und moderner Küchen im Wohnhaus. Freizeit und Urlaub wurden für Bauvorhaben in Eigenregie verwendet. Dennoch wagten einige Ferien am “Teutonengrill” an der Adria und brachten Chianti-Flaschen als Souvenir mit, die als Halter für Tropfkerzen dienten.
Auch die Kirche bot Abwechslung. Unter den Leitworten “Dank für Friede und Wohlstand, Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, Versöhnung mit Polen, Friede in Vietnam” zogen jährlich bis zu 800 junge Frauen und Männer im Rahmen der Passauer Jugendfußwallfahrt nach Altötting, notiert Hannelore Putz. Erstmals hatte diese 1946 stattgefunden. Anfangs sei man getrennt nach Geschlechtern gegangen, ab 1953 gemeinsam. In den 1960er Jahren seien zu zwei Drittel Frauen dabei gewesen. Die katholische Bindekraft als gesellschaftlicher Kitt begann jedoch zu erodieren. Die Teilnehmenden mussten sich gegenüber Gleichaltrigen zunehmend für ihr Mitwirken rechtfertigen.
Dabei war in der Kirche Aufbruch angesagt. 1960 hatte in München der Eucharistische Weltkongress stattgefunden, das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) folgte. Angesichts zunehmender materieller Sicherheit, Freizeit und Mobilität machte sich der Stadtpfarrer von Sankt Franziskus in München, Heinrich Sperr, aber Sorgen: Er stellte eine “allgemeine Übersättigung durch die Arbeit einerseits und das Vergnügen andererseits” fest, so dass die Menschen Anderes im Sinn hätten als religiöses Engagement. 1967 jammerte sein Nachfolger Johann Warmedinger, das Familienleben leide “sehr schwer ob des Doppelverdienertums und all den bekannten Neuzeiterscheinungen”.