„Digitalisierung“ ist das Zauberwort des Augenblicks: Sie soll die verstaubte deutsche Bürokratie modernisieren, Verlage zukunftsfähig machen, die Bahn pünktlicher, die Steuererklärung einfacher. Aber kann die Digitalisierung auch den massiven Mitgliederschwund der Kirche stoppen und der Kirche eine neue Relevanz verleihen? Im vergangenen Jahr kehrten rund 900.000 Menschen den beiden großen Kirchen den Rücken – knapp 523.000 der katholischen und 380.000 der evangelischen Kirche.
„Die Digitalisierung ist kein Allheilmittel“, stellt Maik-Andres Schwarz klar. Der 27-Jährige ist angehender Pfarrer der württembergischen Landeskirche und Digital-Experte. In der EKD-Synode – dem Parlament der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – ist er als stellvertretender Vorsitzender des Zukunftsausschusses mit zuständig für Digitalisierung. Bei der Frage, wie die Kirche Menschen erreiche, sei viel die Rede von niedrigschwelligen Angeboten, sagt Schwarz. Wenn es um Inhalte gehe, ist er gegenteiliger Ansicht: „Nur wenn Kirche klar sagt, wofür sie geistlich steht, und nicht jeden Trend mitmacht, bleibt sie relevant.“ Was aber die „Auffindbarkeit“ von Kirche angehe, könne es gar nicht niedrigschwellig genug sein. Für manche Menschen sei nämlich allein der Schritt über eine Kirchenschwelle eine schier unüberwindbare Hürde, weiß er aus der Praxis.
App „Feed Yourself“ für Hauskreise und andere Kleingruppen
Um auch solche Gruppen zu erreichen und zu begleiten, nutzen Initiativen und Kirchengemeinden zunehmend die Segnungen des digitalen Zeitalters, etwa Apps für Tablets und Smartphones. Eine heißt „Feed Yourself“. Was sich anhört wie die App der Tafeln, ist in Wirklichkeit eine Anwendung für Hauskreise. „Es geht um geistliche Nahrung“, erklärt Manuel Gräßlin aus Karlsruhe. Er ist einer der Initiatoren der App. „Feed Yourself“ richtet sich an Hauskreise und andere Kleingruppen. Sie leitet die Teilnehmer wahlweise thematisch oder anhand einer Bibelstelle durch die Treffen – und das, ohne dass es einer längeren Vorbereitung bedürfte.
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„Pfarrer sind so eingebunden, dass sie oft nur wenig Zeit für die Vorbereitung von Hauskreisen haben“, erklärt Gräßlin, der selbst Theologe ist, den Gedanken dahinter, „und Laien scheuen sich vielfach, einen Kreis eigenständig vorzubereiten und zu leiten“. „Feed Yourself“ soll Abhilfe schaffen. Mehr als 15.000 registrierte Nutzer hat die App – zwei Jahre, nachdem sie an den Start ging. Man kann sie aber auch nutzen, ohne sich zu registrieren. Für die Entwicklung der hochwertig gestalteten App haben sich die Medienagentur visiomedia und die Betreiber des Podcasts bibletunes zusammengetan. Auch die Evangelische Landeskirche in Württemberg unterstützt das Projekt.
„Lebensliturgien“: Tagzeitengebete-App und Morgengebet-Podcast
„Lebensliturgien“ heißt eine andere App, die sich ebenfalls zunehmender Beliebtheit erfreut. „Um uns und in uns ist es meist laut und voll“, sagt Pfarrer Sebastian Steinbach vom ehemaligen Benediktinerkloster Hirsau bei Calw. „Wir brauchen Ruhe, um nicht aufgerieben zu werden.“ Ruhe sollen die „Lebensliturgien“ bieten. Das geistliche Angebot besteht aus einer Tagzeitengebete-App, einem Morgengebet-Podcast und einem Instagram-Account.
Die Resonanz hat Steinbachs Erwartungen übertroffen, wie er sagt. Allein seine rund 260 Podcasts seien bislang mehr als 100.000 Mal angehört worden. Damit sei er kurzzeitig sogar in den Top 20 der religiösen Podcasts gewesen, so der Pfarrer. Wie erklärt er sich den Erfolg der jahrhundertealten Tagzeitengebete? „Liturgien leihen dem Menschen Worte, wenn er selbst keine hat“, sagt Steinbach. Den massiven Kirchenaustrittszahlen zum Trotz gebe es eine große spirituelle Sehnsucht, ist er überzeugt. Das bewiesen auch die rund 30.000 Besucher, die jedes Jahr in das ehemalige Kloster im Nordschwarzwald kämen, um dort Ruhe zu finden.