Gewalt, politische Unruhen und eine Hungersnot: Kein anderes Land aus der westlichen Hemisphäre leidet derzeit so wie Haiti. Doch kaum jemand schaut auf den kleinen Karibikstaat.
“Die ohnehin schon katastrophale Menschenrechtslage hat sich angesichts der unerbittlichen und zunehmenden Bandengewalt noch weiter verschlechtert, mit katastrophalen Folgen für die Haitianer”, warnte UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk vor wenigen Tagen. Mindestens 806 Menschen, die nicht an den gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt waren, seien im Januar getötet, verletzt oder entführt wurden. Darüber hinaus gab es unter den Bandenmitgliedern etwa 300 Tote und Verletzte. Damit verzeichnete Haiti allein im Januar also mehr als 1.100 ermordete, verschleppte oder verwundete Menschen.
“Die Haitianer erleben ein erschreckendes Ausmaß an Gewalt, während sie gleichzeitig darum kämpfen, ihre Familien zu ernähren und Zugang zu anderen Grundbedürfnissen zu erhalten”, sagt Tirana Hassan von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. “Jeder Tag, der verstreicht, ohne dass die internationale Unterstützung für alle Aspekte der Krise aufgestockt wird, bringt mehr Menschenleben in Gefahr.”
Zwei dramatische Appelle innerhalb weniger Tage; doch sie verhallen in einer Welt, die gerade von einer Dauerkrise in die andere zu geraten droht. Die humanitäre Katastrophe in Haiti schafft es nicht auf die Titelseiten oder in die Abendnachrichten. Das unvorstellbare Leid der haitianischen Bevölkerung, insbesondere von Mädchen und Frauen, findet in der internationalen Wahrnehmung praktisch nicht statt.
Auch die Kirche warnt seit Monaten, ja seit Jahren vor den katastrophalen Zuständen. Haiti stehe unter der Herrschaft bewaffneter Banden, die Angst und Schrecken verbreiten und Hunderte von Familien in Trauer versetzen. Die Kirche legte zuletzt den Fokus auf die ausufernde Bandenkriminalität und richtete einen “dringenden Appell” an Ariel Henry, den Premierminister des Landes, die derzeitige sehr ernste Situation der Gewalt zu berücksichtigen und die “weise Entscheidung” zu treffen, die Macht friedlich an “legitime, vom Volk gewählte Führer” zu übergeben.
Henry ist nach der Ermordung von Staatspräsident Jovenel Moise im Juli 2021 an die Macht gekommen. Längst hätten Neuwahlen stattfinden müssen, doch Henry klammert sich an die Macht. Dahinter nutzen bewaffnete brutale Banden das Vakuum, um ihren Einfluss auszubauen. Allein in einer Woche mussten 10.000 Menschen aus ihren Häusern fliehen.
Vor wenigen Tagen wurde ein katholischer Bischof bei einem Attentatsversuch verletzt. Wie die Haitianische Bischofskonferenz in einer Stellungnahme mitteilte, handelt es sich bei dem betroffenen Geistlichen um Bischof Pierre Andre Dumas aus der Diözese Anse-a-Veau im Westen des Landes. Dumas ist zugleich amtierender Vizevorsitzender des Episkopats. Auch er hatte in der Vergangenheit die von den kriminellen Banden in Haiti praktizierten Entführungen als “abscheulichen und barbarischen Akt” verurteilt und forderte bei mehreren Gelegenheiten ein Ende “dieser verabscheuungswürdigen und kriminellen Praktiken”.
Im Nachbarland Dominikanische Republik wächst die Furcht, vom Rest der Welt mit den Folgen der humanitären Krise alleingelassen zu werden. Also verspricht die Politik eine Art Mauerbau und verbittet sich jede Einmischung von jenen, die viele Ratschläge geben, aber kaum praktisch helfen. Die UN will eine internationale Sicherheitsmission ins Land schicken, kommt bei dem Vorhaben aber nicht richtig voran. Mal gibt es grünes Licht aus Kenia, das die Mission anführen soll, dann folgen Rückzieher.