Einmal wirft Don Shirley mit großer Geste einen abgenagten Hühnerknochen aus dem Fenster des fahrenden Autos. Er macht dies mit einer so spürbaren Freiheit und Freude, dass es wahrlich herzerweichend ist; zum ersten Mal in seinem Leben hat der kultivierte, stets beherrschte Ausnahmepianist so etwas Bodenständiges, in seinen Augen völlig Ungehobeltes, getan. Es ist, als öffne sich ihm eine neue Welt – oder zumindest ein neuer Blick auf die Welt.
Die Tür zu dieser Welt hat sein Fahrer Tony Lip aufgestoßen. Der italienischstämmige New Yorker ist das pure Gegenteil des belesenen, eleganten, aber auch einsamen und ziemlich verkrampften Shirley. Tony ist ungebildet, hat keine Manieren, spricht Slang und isst unfassbare Mengen fettigen Zeugs. Aus dem krassen Gegensatz zwischen diesen von Mahershala Ali und Viggo Mortensen traumhaft gespielten Charakteren schlägt der Film einen Großteil seiner wunderbaren Komik.
“Green Book”: Tony ist der Mann fürs Grobe
Eigentlich arbeitet Tony als Türsteher eines Nachtclubs, wo er als Mann fürs Grobe bekannt ist. Doch da das Etablissement vorübergehend schließt, braucht der mehrfache Familienvater einen Job. Und Shirley braucht jemanden, der ihn während seiner Konzerttournee durch die US-amerikanischen Südstaaten kutschiert – und beschützt. Denn Shirley ist schwarz, und man schreibt das Jahr 1962.
Tony, Shirley und die Freundschaft, die die beiden nach langem Anlauf bis zu ihrem Lebensende verband, hat es tatsächlich gegeben. Ebenso wie das “Negro Motorist Green Book”, einen Reiseführer für schwarze Reisende, auf den sich der Titel bezieht. Darin waren die Restaurants und Hotels im Süden des Landes aufgelistet, die auch schwarze Gäste bedienten. An ihm müssen sich der weiße Chauffeur und der schwarze Klavierspieler auf ihrer mehrwöchigen Reise durch Kentucky, Tennessee oder Mississippi orientieren.
Vor rassistischer Ausgrenzung bis hin zu gewalttätigen Übergriffen schützt sie aber auch das “Green Book” nicht. Ganz im Gegenteil.
Demütigende Diskriminierungen
Gerade inmitten seiner “Gastgeber” erfährt Shirley die demütigendsten Diskriminierungen. Er darf seine grandiose Klavierkunst als Pianist zwar vor seinem scheinbar liberalen und kultivierten weißen Publikum präsentieren, das ihn auch eifrig beklatscht.
“Green Book” ist als Feel-Good-Movie angelegt, das sein knallhartes Sujet in jedem Moment ernst nimmt. Dass der recht konventionell inszenierte Film die Themen Rassismus und Diskriminierung in die herzerwärmende Story einer Freundschaft zwischen zwei gegensätzlichen Männern packt, ist ein kluger Schachzug seiner Macher, zu denen neben Peter Farrelly auch Nick Vallelonga, der Sohn des echten Tony Lip, gehört. Mit einer vergnüglichen Gestalt lassen sich viele Menschen erreichen, was “Green Book” bei der US-amerikanischen Bevölkerung schon mal gelungen ist: Die Tragikomödie mutierte zum Kritiker- und Juryliebling, wofür zahlreiche Nominierungen und Preise stehen, allen voran drei Oscars 2019 (bester Film, bestes Drehbuch und bester Nebendarsteller Mahershala Ali) und drei “Golden Globes”, unter anderem auch als “Bester Film” in der Kategorie Komödie/Musical.
“Green Book” verschweigt keine bitteren Seiten
Dennoch verschweigt der von Peter Farrelly inszenierte Film nicht die bitteren Seiten des Themas: Die abgrundtiefe Verachtung, die die weiße Mehrheitsgesellschaft insbesondere dem schwarzen Körper entgegenbringt, ist schmerzhaft mit Händen zu greifen. Anspielungen aufs aktuelle Amerika verkneift sich Farrelly, was kein Verlust ist – der Stoff ist so universal und allgemeingültig, dass man ihn kaum unter “historisch” oder “erledigt” abhaken kann.