Wie es wohl geklungen haben mag, wenn die Zisterzienserinnen von Marienbrunn im Gottesdienst gesungen haben? Schließt man von ihrem Gesangbuch zurück auf die Musik, muss die Kirche erfüllt gewesen sein von himmlischen Tönen: Das Graduale, das sie benutzten – das Buch mit den liturgischen Gesängen für jeden Tag im Kirchenjahr – war von so ungewöhnlicher Pracht, dass es als eine der schönsten Handschriften der Gotik gelten kann.
Geschrieben, oder vielleicht besser: gemalt, wurde es um 1300 wahrscheinlich von Nonnen des Klosters Marienbrunn bei Osnabrück. Wie viele Frauen daran mitgearbeitet haben, weiß man nicht – mindestens waren es aber drei, wie Friederike Dorner, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Diözesanmuseum Osnabrück, erklärt. Das lässt sich an den verschiedenen Schriften und Malstilen erkennen.
Den Aufwand für das 172-seitige Buch kann man anhand einiger Vergleiche erahnen, die Dorner nennt: Allein schon für das Pergament waren Häute von etwa 40 Ziegen notwendig. Für eine handgeschriebene Seite mit reinem Text rechnet man einen Tag Arbeit. Der Codex hat jedoch darüber hinaus Noten, reichlich ornamentalen Schmuck und vor allem 53 Miniatur-Initialen, also Zierbuchstaben, die mit kleinen, sehr detaillierten Gemälden versehen sind. Zusätzlich ist fast jede Seite mit Blattgold und einem speziellen Blau verziert, das aus geriebenem Lapislazuli hergestellt wurde – „damals noch teurer als Gold“, erklärt Dorner.
Die Arbeit an dem Graduale muss sich über Jahre hingezogen haben. Der Wert ist unschätzbar, und es ist nicht ganz klar, wie sich das kleine Nonnenkloster, in dem nie mehr als elf Ordensschwestern lebten, diesen Reichtum leisten konnte. Aber es ging den Nonnen ja gar nicht um irdische Güter. Vielmehr flossen alle Arbeit und alle Kosten ein in ein Werk zur Ehre Gottes – und dafür war nur das Beste gut genug.
Die künstlerische Leiterin dieses Mammutwerkes hieß Gisela von Kerssenbrock, die „Cantrix“, also Vorsängerin oder Singmeisterin der Gemeinschaft. Sie muss nicht nur eine begabte Musikerin und Malerin, sondern auch eine außerordentlich bewanderte Theologin gewesen sein, erklärt Dorner: Die Bildsprache des nach Gisela benannten „Codex Gisle“ weist eine Vielzahl von innerbiblischen Anspielungen auf. „Auf den gemalten Spruchbändern finden sich zum Beispiel häufig Psalmzitate, die bei den Nonnen sofort ein ganzes Programm im Kopf in Gang setzten“, so die Historikerin.
Besonders die Gottesmutter Maria, aber auch Maria Magdalena galten als Identifikationsfiguren der frommen Frauen. In welcher Rolle sie sich selbst sahen, wird in ungewöhnlichen Miniaturen deutlich: Zu Ostern zum Beispiel wird Maria Magdalena nicht nur als die erste Zeugin, sondern zudem als von Jesus selbst beauftragte Botin der Auferstehung dargestellt – „das ist Frauenpower pur“, meint Dorner.
Diese Vergewisserung durch das Bildprogramm war auch die eigentliche Funktion des prachtvollen Choralbuchs. Denn zum Singen brauchten es die Ordensschwestern gar nicht: „Eine musikalisch durchschnittlich begabte Nonne konnte die gesamte Liturgie nach spätestens zehn Jahren auswendig“, sagt Dorner. Mit Hilfe der Bilder und Texte enstand beim Singen eine eigentümliche, meditative Atmosphäre, in die sich die Gläubigen versenken konnten. Sogar heute noch lässt sich dieser Effekt erzielen, berichtet die Historikerin: Die Frauenschola des Osnabrücker Jugendchores hat die Gesänge einstudiert – mit Hilfe moderner Noten, denn die mittelalterliche Notenschrift ist heute nur noch Spezialisten bekannt. „Als die Sängerinnen die Melodien einigermaßen beherrschten, haben sie die modernen Noten gegen mittelalterliche getauscht – und sofort entstand ein ganz anderer Klang.“
Ungewöhnlich für die mittelalterliche Buchmalerei: Gisela hielt sich mit ihrer Identität nicht zurück. An zwei Stellen fügt sie ihren detailgenauen Zeichnungen von Nonnen in zisterziensischer Tracht ihren Namen in roter Tinte hinzu.
500 Jahre lang benutzten die Zisterzienserinnen das Graduale wahrscheinlich täglich. Offenbar wurde es dabei sehr behütet – „es hat zwar Gebrauchsspuren wie braune Ecken oder Sprünge im Blattgold, aber abgesehen davon ist es außergewöhlich gut erhalten“, erklärt Dorner. Als das Kloster im Jahr 1802 aufgehoben wurde, gelangte die kostbare Handschrift in den Besitz des Osnabrücker Weihbischofs Karl Klemens von Gruben. Heute wird der Codex Gisle im Diözesanarchiv des Bistums Osnabrück aufbewahrt.
Zugriff auf die kostbare Handschrift haben dort nur Fachleute. Aber der Schweizer Quarternio-Verlag hat den Codex jetzt in einer aufwendigen Faksimile-Ausgabe zugänglich gemacht: Sorgfältig wurde Seite für Seite abfotografiert, gedruckt und farblich genau abgeglichen. Die Wiedergabe der Vergoldungen erfordert dabei mehrere Arbeitsgänge, bis hin zum Auftragen von echtem Blattgold mit dem Pinsel.
Der Preis ist entsprechend: Über 10 000 Euro bezahlt man für ein Exemplar – und das, so meint Dorner, die den Herstellungsprozess beobachtet hat, ist immer noch recht preiswert…