„Der nationale Leidensweg nach Compiègne war das Schwerste und Bitterste, was mir in meiner amtlichen Tätigkeit auferlegt worden ist“, schrieb Matthias Erzberger rückblickend. Eine Alternative zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg sah der Zentrums-politiker und Chef der Verhandlungsdelegation im November 1918 nicht. Im Gegenteil: „Ich habe das Bewusstsein, für unser teures Vaterland gerettet zu haben, was überhaupt zu retten war.“
Feinde der Republik sahen Erzberger als Verräter
Die rechtsradikalen Feinde der jungen Republik sahen in dem Erst-unterzeichner der erniedrigenden Waffenstillstandsvereinbarung vom 11. November, die bereits in wesentlichen Zügen den Friedensvertrag von Versailles vorwegnahm, dagegen einen Verräter. Sie nannten ihn „Novemberverbrecher“. 1921 schlug der Hass in die Tat um: Rechtsradikale Offiziere erschossen Erzberger bei Bad Griesbach im Schwarzwald.
Dass Erzberger im französischen Salonwagen bei Compiègne rund 80 Kilometer nördlich von Paris mit der Kapitulation mittelbar sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte, ist der Obersten Heeresleitung (OHL) zuzuschreiben. Obwohl sie alleinverantwortlich für das militärische Debakel an der brüchig gewordenen Front war, überließ sie einem Zivilisten die undankbare Aufgabe, einen Waffenstillstand zu erreichen. Die Heeresleitung hatte sich geschickt aus der politischen Schusslinie genommen.
Die von weiten Teilen der Bevölkerung als Schmach empfundene Niederlage war fortan untrennbar mit dem Namen Erzberger verbunden. Auf ihm lastete in der Frühzeit der Weimarer Republik eine schwere Hypothek, auch, weil die Militärs fleißig an der „Dolchstoßlegende“ strickten: Das Heer sei „im Felde unbesiegt“ geblieben und von „inneren Feinden“, darunter Juden, Kommunisten und bürgerliche Demokraten, „hinterrücks erdolcht“ worden. Eine These, die vor allem in rechtsradikalen Offizierskreisen verfing – und die letztlich zur Ermordung Erzbergers führte.
Für Theodor Heuss (FDP), den ersten deutschen Bundespräsidenten, wäre es die Pflicht der OHL gewesen, selbst zu kapitulieren. Sie allein sei für den Ablauf der Kriegshandlungen verantwortlich gewesen. Dass Erzberger den Generälen diese Last abnahm, „war sachlich und menschlich eine fehlerhafte Entscheidung“, urteilte Heuss.
Der Krieg war spätestens mit dem Eintritt der USA aufseiten der Entente-Mächte am 6. April 1917 nicht mehr zu gewinnen. Am 14. August stufte die OHL die militärische Lage als aussichtslos ein, obwohl sich die deutschen Truppen noch tief im Feindesland befanden. Doch die Soldaten hatten genug vom verlustreichen Grabenkrieg. Tausende Soldaten desertierten. Am 29. September forderte die militärische Führung geradezu panisch, sofort Waffenstillstandsverhandlungen aufzunehmen. Ein Schock für die hungernde Bevölkerung: Der von der kaiserlichen Propaganda vier Jahre lang unermüdlich versprochene „Siegfrieden“ löste sich buchstäblich in Luft auf.
Über die Schweiz wandte sich Max von Baden, der letzte Kanzler des untergehenden Kaiserreichs, an US-Präsident Woodrow Wilson mit der Bitte, sofort Gespräche über ein Ende der Kämpfe aufzunehmen. Der stellte jedoch zahlreiche Bedingungen. So pochte Wilson darauf, zuvor den U-Boot-Krieg einzustellen, General Ludendorff zu entlassen und eine unumkehrbare Parlamentarisierung einzuleiten.
Matthias Erzberger, Staatssekretär ohne Geschäftsbereich, wurde Leiter der Waffenstillstandskommission. Er wählte nur zwei Militärs und einen Vertreter des Auswärtigen Amtes zu seinen Begleitern. Nach einem ersten Treffen mit den Siegern war Erzberger schockiert darüber, welche Kapitulationsbedingungen der französische Marschall Ferdinand Foch diktierte: Dieser gab unmissverständlich zu verstehen, dass nicht über einzelne Bedingungen verhandelt werde, sondern die Kapitulation wie vorgelegt zu akzeptieren sei. Erzberger kabelte zur OHL, Antwort Hindenburgs: Es müsse „versucht werden, Erleichterungen zu erreichen. Gelingt Durchsetzung nicht, so wäre trotzdem abzuschließen“.