Zunehmend extreme politische Strömungen, wachsender Nationalismus, Anfeindungen gegen Minderheiten, Hasskommentare im Internet: Muss eine Demokratie das aushalten? Kann sie es? In Zeiten wie heute steht bei Konflikten in der Politik schnell der Begriff Krise im Raum. Je nach Ausmaß sprechen manche gar von einer Krise der Demokratie. Für den Heidelberger Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt geht diese Rede an der Sache vorbei. Wer von einer Krise spreche, verwechsle Herausforderungen mit ernsthaften Bedrohungen, sagt der 69-Jährige im Interview mit Anna Fries in Heidelberg. Probleme sollten vielmehr sachlich analysiert werden.
Herr Professor Schmidt, steckt die Demokratie in einer Krise?
Über dieses Thema und die Frage, welche Krise das sein soll, streiten sich die Fachleute seit Beginn der Demokratie. Die Krisendiagnosen fangen bei den alten Griechen an und finden sich bei vielen zeitgenössischen Theoretikern. „Zerfall der Demokratie“, „Unregierbarkeit“, „überforderte Politiker“ oder „überforderte Wähler“ sind einige der in Krisentheorien beliebten Diagnosen.
Gibt es denn die perfekte Demokratie?
Nein, aber viele Beobachter der Demokratie haben ihre eigene perfekte heile Welt. Einer wünscht, dass das Volk einer Meinung ist und die Regierung diese Meinung umsetzt. Andere sagen, eine Demokratie funktioniert, wenn die politischen Verfahren und die Rechte aller Bürger eingehalten werden und der Staat sich daran hält. Für wieder andere müssen die Rechte, die Chancen und die Ergebnisse der Politik für alle gleich sein.
Auch in der aktuellen Debatte heißt es oft, die Demokratie sei in einer Krise.
Bei solchen Diagnosen kommt vieles zusammen. Was heute oft als Krise bezeichnet wird, sind im Grunde Funktionsprobleme. Das demokratische System funktioniert nicht richtig – und wird dafür zu Recht kritisiert. Aber: Funktionsstörungen machen noch keine Krise aus. Die wäre gegeben, wenn Faktoren gefährdet sind, die für den Bestand der Demokratie notwendig sind. Ein zeitgeschichtliches Beispiel für eine Krise der Demokratie ist Deutschland zwischen 1932 und 1933. Da rückt der Zusammenbruch der Demokratie in greifbare Nähe und mit der Ernennung von Hitler zum Reichskanzler beginnt ihr Untergang.
Welche Funktionsstörungen wären mögliche Anzeichen für eine Krise?
Viele. Unter anderem ein großer Kreis von Nichtwählern. Bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr hat rund ein Viertel der Wahlberechtigten nicht gewählt. Bei Landtags-, Kommunal- und Europawahlen sind es noch mehr. Vor allem sozial Schwächere gehen überdurchschnittlich oft nicht wählen. Solche Sachverhalte können sich ändern. Das zeigt etwa das Aufkommen der AfD, die bei der Bundestagswahl 2017 einen beträchtlichen Teil der Nichtwähler aktiviert hat.
Stichwort AfD – wie bewerten Sie den Zuspruch für populistische Parteien im Hinblick auf die Demokratie?
Missliebige Strömungen wie etwa Links- oder Rechtspopulisten sind Hinweise auf Veränderungen im politischen Umfeld der Wähler und eine hochgradige Unzufriedenheit. Populistische Strömungen sind jedoch keine belastbaren Anzeiger eines auf den Abgrund zusteuernden Zustandes der Demokratie. Die demokratischen Strukturen funktionieren bis heute auch hierzulande einigermaßen. Allgemeine, freie, gleiche Wahlen werden korrekt durchgeführt und das Ergebnis umgesetzt. Und auch die verfassungsstaatlichen Strukturen sind weitgehend intakt.
Wie sieht das mit Blick auf Europa aus?
Gemischt. Einerseits laboriert die Europäische Union an einem Demokratiedefizit. Im Rahmen dieser Beschränkung ist das Bild allerdings heller. Etwa die Hälfte der Demokratien in Europa funktioniert vergleichsweise gut. In der anderen Hälfte gibt es viele Nichtwähler und Bürger, die mit der Demokratie unzufrieden sind.
Zum Beispiel?
In Polen oder Ungarn stehen Regierungen an der Macht, die mit stark nationalistischen Tendenzen bei einem Großteil der Bevölkerung punkten. Dort werden zum Teil verfassungsstaatliche Institutionen und die Rechtsprechung eingeschränkt und die Gewaltenteilung geschwächt. Trotzdem bewegen Länder wie Polen und Ungarn sich nicht auf eine Autokratie zu. Ganz anders Russland, dort ist der Umschlag in eine Diktatur mit Wahlen schon erfolgt. Und auch Staaten wie Venezuela oder die Türkei sind auf dem Weg in eine Diktatur.
Wie sehen Sie das mit Blick auf die Zukunft?
Die Demokratie ist mittlerweile weit verbreitet. Aber viele Demokratien haben Mängel. Europa steht besser da, der Anteil funktionierender Demokratien ist relativ groß. Gewiss, ein ansehnlicher Teil der Bürger ist unzufrieden damit, wie die Demokratie in ihrem Land funktioniert. Trotzdem sind die meisten Bürger in Europa keine Gegner der Demokratie. Läge der Anteil der Systemgegner bei 30 bis 40 Prozent oder mehr, wäre Alarm angesagt. Dann würde der Demokratie eine schwere Erschütterung drohen, vielleicht sogar der Absturz. Doch davon sind wir weit entfernt.