Artikel teilen:

Für jeden Atemzug

Im Holy Family Hospital in Bethlehem landen die schwersten Fälle. Neben medizinischer Qualität will die Geburtsklinik am Geburtsort Jesu eine Oase des Friedens sein – hier werden alle behandelt, egal, welcher Religion sie angehören

Eine lange Nacht liegt hinter dem Team der Neugeborenenintensivstation des Malteserkrankenhauses zur Heiligen Familie in Bethlehem. „Zwölf Stunden haben wir mit dem Baby gearbeitet“, sagt der leitende Arzt George Zoughbi. Doch der winzige Körper in dem Brutkasten wird nur noch durch Maschinen am Leben erhalten. Der Junge ist tot. Ein roter Kittel, wie ihn die Mütter tragen, deckt das Wärmebett ab. Doktor Zoughbi hat alles gegeben, „doch wenn ein Kind gehen will, dann geht es“. Ein bis zwei Mal im Jahr kommt das vor, erstaunlich selten dafür, dass oftmals die schwersten Fälle in der größten Geburtsklinik im Westjordanland landen.

Christliche Ethik bestimmt das medizinische Handeln

24. Schwangerschaftswoche, 800 Gramm Geburtsgewicht, krank: „Andere Krankenhäuser“, sagt George Zoughbi, der vor seiner Rückkehr in seine Geburtsstadt Bethlehem 17 Jahre in Kanada und New York gelebt hat, „hätten die Frühgeburt als Fehl-geburt behandelt“. Seine Ethik findet der Arzt in seiner christlichen Religion begründet: „Wenn ein Kind atmet und sich bewegt, dann müssen wir mit ihm arbeiten.“
Die Erfolgsquote gibt dem Arzt recht. So ist die Sterblichkeitsrate im Holy Family Hospital mit jenen westlichen Standards vergleichbar, an denen sich das Krankenhaus am Geburtsort Jesu misst. Da Medizin nicht im Angebot der palästinensischen Universitäten ist, haben die Ärzte von Bethlehem im Ausland studiert. Regelmäßige Fortbildungen durch ausländische Dozenten sollen die Qualität zusätzlich erhöhen.
„Wenn wir die Situation hier verbessern wollen“, sagt Tamer Musleh, „müssen wir neue Erfahrungen von außen reinbringen“. Der Palästinenser aus Bethlehem hat in Kairo Medizin studiert und ist einer von acht angehenden Ärzten, die ihre verpflichtende fünfjährige Anerkennungszeit am Holy Family Hospital absolvieren. Musleh hat sich auf Gynäkologie und Geburtskunde spezialisiert. „Alle komplizierten Fälle landen hier.“ Noch etwas zeichnet die Einrichtung nach den Worten des jungen Mediziners aus: „Als christliches Krankenhaus behandeln wir Muslime und Christen und vermitteln die Erfahrung, dass wir alle zusammen hier sind.“ Nicht die Religionszugehörigkeit steht im Vordergrund, sagt Musleh, sondern die Freude der Mütter. „Hier wird neues Leben gegeben. Und vielleicht wird dieses Leben in Zukunft etwas verändern.“
Der doppelte Zeugnischarakter des Krankenhauses ist Direktor Denis Sevaistre wichtig. „Hier zeigen wir, dass wir Christen uns ohne Hintergedanken engagieren. Wir sind ein Beispiel der Zusammenarbeit von Christen und Muslimen, und unsere Räume sind eine Oase des Friedens“, sagt er. Hinzu kommen die Kontakte der arabischen Mediziner zu israelischen Krankenhäusern. Auch das, sagt der Franzose und einzige Ausländer im Team, „ist ein Zeugnis: An erster Stelle steht die Medizin, steht der Patient.“

Immer mehr Frauen wollen in dieser Klinik entbinden

Um rund ein Drittel hat die Zahl der Geburten in dem Krankenhaus unter Denis Sevaistre zugelegt. Der ehemalige Militär hat seit vier Jahren die Leitung inne. Bis Jahresende, schätzt er, dürften in diesem Jahr 4500 Kinder das Licht der Welt erblicken – rund die Hälfte der im Distrikt Bethlehem geborenen Kinder. Steigende Geburtenzahlen, aber auch das beständig wachsende Renommee der Klinik sind die Gründe für das Wachstum. Sevaistre begegnete der steigenden Nachfrage mit einem Ausbau des Personals – für das vor allem spendenfinanzierte Krankenhaus eine große finanzielle Herausforderung. „Als karitative Einrichtung decken unsere Preise die Ausgaben nicht“, sagt der Leiter. Wird mehr Personal eingestellt, steigt die Qualität und kommen mehr Patienten. „Für unser Budget ist das ein Risiko.“
Auch wenn der Krankenhauschef auf lange Sicht „größtmögliche Autonomie“ anstrebt: Rund die Hälfte der laufenden Kosten des Krankenhauses werden durch Spenden getragen. Palästinensische Spender gehören zu Sevaistres Bedauern nicht dazu. Das Symbol Bethlehem als Geburtsort Jesu, sagt er, „wirkt vor allem nach außen“. Bis zu 200 ausländische Gruppen besuchen das Krankenhaus jährlich, sagt die PR-Beauftragte Rawan Hazboun. Viele von ihnen tragen mit Spenden zum Erhalt der Einrichtung bei.
Die Schwestern auf den Stationen bestätigen: In den Köpfen der Patientinnen spielt die Nähe zur Geburtsgrotte keine Rolle bei der Wahl des Krankenhauses. Was für die Mütter zählt sind Würde, Respekt, Sauberkeit und Sicherheit. „Bei meiner ersten Entbindung im staatlichen Krankenhaus habe ich mich nicht sicher gefühlt“, sagt die 28-jährige Beduinin Maryam. Diskriminierung gegen Beduinen und gegen Arme sei dort an der Tagesordnung. Ihr viertes Kind, Yassin, ist wie seine beiden nächstälteren Geschwister bei den Maltesern geboren worden. „Hier bin ich in sicheren Händen“, sagt sie.
Auf der Intensivstation ist Ruhe eingekehrt. Ein paar Mütter in roten Kitteln streicheln die winzigen Wesen in den Bettchen. Um in den engen finanziellen und räumlichen Vorgaben sowie der schwierigen politischen Situation den selbstgesteckten hohen Zielen gerecht zu werden, seien ungewöhnliche Maßnahmen nötig, sagt Arzt George Zoughbi. Statt ursprünglich 16 hat seine Intensivstation nun 18 Betten. Fast immer sind sie voll belegt.
„Wir versuchen, die Behandlungszeit der Babys nicht länger als zwei Monate zu halten“, sagt der Arzt. Im Idealfall seien nicht mehr als zwei Betten von chronisch kranken Babys belegt. Am Ende aber steht die Ethik immer über den Regeln: „Wenn ein Baby lebt, arbeiten wir mit ihm.“