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Fotos auch fühlen, hören, riechen, schmecken

Religionslehrerinnen und -lehrer erschließen biblische Texte durch kreative Zugänge neu. Eine Tagung des Pädagogischen Instituts unter Anleitung einer Kunstpädagogin vermittelte ihnen das Know-how

Die Vorstellung von Lehren und Lernen hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Früher ging man davon aus, dass die Vermittlung von neuen Erkenntnissen so funktioniert: Weise Menschen trichtern oder flößen anderen (Unwissenden) Wissen ein. Heute weiß man, dass Lernen ein Prozess ist, der selbstbestimmt ist und bei dem jeder und jede selbst die neu gewonnenen Erkenntnisse in die eigene Wissenskonstruktion einfügt.
Diese neuen Erkenntnisse sowie die Tatsache, dass die jeweiligen Lerngruppen in Schule und Gemeinde immer komplexer und heterogener werden, erfordern ein Umdenken in den Methoden der Vermittlung. Unserer Ansicht nach ist für die Erkenntnisgewinnung eine offene kreative Auseinandersetzung von größter Bedeutung. Zwei Beispiele machen dies deutlich.
Im Rahmen einer Tagung des Pädagogischen Institutes Villigst und später in ihrem eigenen Unterricht haben sich einige Religionslehrerinnen und -lehrer damit auseinandergesetzt, biblische Texte durch kreative Zugänge in einer Schreibwerkstatt unter der Anleitung der bildenden Künstlerin und Kunstpädagogin Sabine Lucke (Düsseldorf) zu erschließen.

Künstlerisch gestaltet in neuem Licht

Dabei verwandelten die Teilnehmenden Texte allmählich in ein Drahtbild und ließen sich die Texte dabei gründlich auf der Zunge zergehen. Es entstanden lange Reihen eines Wortes in unterschiedlicher Form und Größe auf einer langen (Kassen-)Rolle, es wurden Texte so weit wie möglich gekürzt und Textteile, die den Teilnehmenden im Laufe der Auseinandersetzung bedeutsam wurden, in unterschiedlicher Form schriftbildlich dargestellt. In einer weiteren Übung wurde der Text aus Prediger 3 „Alles hat seine Zeit“ in seine Gegensatzpaare zerlegt, diese durch Bild-/Textcollagen dargestellt und dann nach Vorstellungen der Teilnehmenden zu einem zweiseitigen Gesamtbild kombiniert.
Die einzelnen gestalterischen Ergebnisse und insbesondere die anschließend entstandenen Kombinationen ließen die jeweiligen biblischen Texte in einem neuen Licht erscheinen, und es erschlossen sich für die Teilnehmenden neue (Be-)Deutungen der Texte. Gleichzeitig verbanden sie durch ihre gestalterische Komposition den jeweiligen Text mit ihrer Lebenssituation, so dass diese lebensbedeutsam wurden.
Einige Äußerungen von Teilnehmenden: „Die Bibeltexte bekamen eine neue inhaltliche Bedeutung für mich.“ „Ich entdeckte in einem Text Gedanken, die ich vorher nie darin gesehen hatte.“ „Ich habe viel gelernt, über die eingesetzten biblischen Texte und über mich, über mein Leben.“ „Tolle Möglichkeiten für heterogene beziehungsweise inklusive Lerngruppen.“
„Bilder prägen unser Leben. Sie markieren die Wende zum 21. Jahrhundert.“ – Dieses Zitat des Verlegers Hubert Burda macht darauf aufmerksam, wie wichtig für uns Bilder sind und wie sehr wir auf Visualisierungen angewiesen sind. 90 Prozent der an unser Gehirn weitergeleiteten Informationen sind visuell. Bilder werden von unserem Gehirn 60 000 Mal schneller verarbeitet als Text.

Umgang mit Fotografie neu einüben

Das legt nahe, Fotografie methodisch gezielt einzusetzen. Die fortschreitende Digitalisierung der Klassenzimmer gibt uns heute die Möglichkeit, den Unterricht durch Fotos zu unterstützen. Wollen wir mit Schülern und Schülerinnen biblische Geschichten erschließen, dann sollten wir ihnen zum Beispiel per Foto auch die Orte des Geschehens zeigen. Bilder verfügen über eine Komplexität und Authentizität, die Sprache nie erreichen kann.
Dafür aber müssen Schülerinnen und Schüler den Umgang mit Fotografie neu einüben. Denn sie sind gewohnt, Fotos schnell durchzusehen. Im Unterschied dazu geht es darum, die Fotos beim Betrachten mit allen Sinnen zu erfassen. Es geht darum, inne zu halten und zu überlegen, was wohl auf dem Foto zu „hören“ und zu „riechen“ ist. Zu überlegen, welchen Geschmack sie auf der Zunge hervorrufen und was sie fühlen, wenn sie das Foto sehen. Erst zum Schluss sollen sie erzählen, was sie sehen. Ergebnis: „Jetzt, wo ich das Bild mit allen meinen Sinnen wahrgenommen habe, sehe ich viel mehr als vorher“, erklärt mit leuchtenden Augen ein Seminarteilnehmer.
Kreative Methoden sind keine Hexerei.  Sie benutzen in der Regel nur alle Wahrnehmungskanäle, die  Menschen zur Verfügung stehen. Sie binden das Fühlen mit ein, bevor es um das Denken geht. Sie bereichern und erweitern eben das Verstehen.

n Die beiden Autoren, Andreas Nicht und Dirk Purz, sind Mitarbeiter des Pädagogischen Instituts der Evangelischen Kirche von Westfalen.