„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ Diese berühmten Worte malen einen Martin Luther vor Augen, der unerschütterlich vor Kaiser Karl V. seine reformatorischen Erkenntnisse verteidigt. Ein Vorbild an Mut, Gottvertrauen und Standhaftigkeit; ein Ideal, dem man nacheifern sollte.
Zitate wie dieses gibt es in großer Zahl. Sie sollen eine Person charakterisieren: den Glaubensstarken (Martin Luther, siehe oben); den Visionär (Michail Gorbatschow: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“) oder die Nüchtern-Pragmatische: (Angela Merkel: „Wenn Aufregung helfen würde, würde ich mich aufregen.“) Außerdem werden solche Sätze gern zum Untermauern eines eigenen Gedankengangs oder einer eigenen Meinung angeführt, nach dem Motto: Schaut her, wenn die oder der das gesagt hat, kann es nicht so falsch sein.
Allein – viele der berühmten und beliebten Sätze sind so nie gefallen. Zum Beispiel das Luther-Zitat: Es wurde dem Reformator erst später in den Mund gelegt. Nur der Ausruf „Gott helfe mir“ findet sich im Protokoll des Wormser Reichstags. Gorbatschows Spruch ist eine falsche Übersetzung; gesagt hat er „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“. Und der Aufregungs-Satz von Merkel stammt aus einem Spielfilm.
Schade um manch griffigen Ausspruch, der vielleicht zum Nachdenken anregt und vermeintlich die maßgeblichen Eigenschaften einer Berühmtheit auf den Punkt bringt. Aber genau das ist die Krux: Falsche Zitate vereinfachen meistens. Sie wollen besonders mächtige oder kluge Menschen mit zwei, drei Sätzen charakterisieren – aber die sind eben doch vielschichtiger und widersprüchlicher, als die prägnanten Worte meinen machen.
Genauso ist es häufig mit den Meinungen, die mit den falschen Zitaten untermauert werden sollen: Sie vereinfachen die Wirklichkeit, statt ihre Komplexität darzustellen. Die Welt lässt sich nicht in zwei Sätzen auf den Punkt bringen, und ein paar einfache Schlagwörter helfen nicht dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie noch so gut formuliert sind. Ehrlicher ist es da, nach eigenen Worten zu suchen – auch wenn die nicht ganz so genial zuspitzen.
Im schlimmsten Fall manipulieren falsche Zitate das Bild einer Person und machen sie zum Kronzeugen für das Gegenteil ihrer ursprünglichen Überzeugung. Zum Beispiel Sophie Scholl, die von Gegnerinnen und Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen gern mit den Satz zitiert wurde: „Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit, die nur überleben will, sich fügt und alles mitmacht.“ Das hat Scholl nie gesagt. Es taucht erstmals im Juli 2020 auf und wurde im Internet schnell weiterverbreitet – naheliegenderweise vor allem von Menschen, die die Corona-Maßnahmen in die Nähe der Ermächtigungsgesetze rückten und Angela Merkel mit Hitler verglichen.
Was Sophie Scholl tatsächlich geschrieben hat, findet sich auf dem fünften Flugblatt der Weißen Rose: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!“ Das ist ein Zitat, das es wert ist, bedacht und weitergesagt zu werden – und ein Ideal, dem man wirklich nacheifern kann.