Kürzlich kursierte ein Quiz in sozialen Medien im Internet. Eine der Fragen: „Glaubte man im Mittelalter, die Erde sei eine Scheibe?“ Ich klickte spontan auf ja und war überrascht, dass ich falschlag.
Je tiefer ich in das Thema einstieg, zeigte sich: Im Mittelalter herrschte keineswegs die Meinung vor, die Erde sei eine Scheibe. Vielmehr handelt es sich dabei um einen weit verbreiteten Irrtum. Doch selbst im 21. Jahrhundert ist davon in deutschen Schulbüchern noch zu lesen. Es heißt, dem mittelalterlichen Weltbild zufolge sei die Erde eine auf dem Ozean schwimmende Scheibe gewesen. Deshalb hätten die Seeleute Angst gehabt, auf dem offenen Meer irgendwann vom Rand der Scheibe hinabzustürzen.
Kugelgestalt ist seit der Antike bekannt
Auch wenn es um Christoph Kolumbus geht, hält sich ein hartnäckiges Gerücht: Er habe mit seiner abenteuerlichen Fahrt beweisen wollen, dass die Erde eine Kugel sei. Auch das ist falsch. Bei seinen Auseinandersetzungen mit dem spanischen und portugiesischen Hof ging es darum, dass er die Länge der Route falsch berechnet habe und eine Atlantiküberquerung insgesamt zu risikoreich sei. Die Kugelgestalt der Erde dagegen war seit der Antike und auch im Mittelalter den Gelehrten bekannt und kaum bestritten, auch nicht von der katholischen Kirche. Vorstellungen einer scheibenförmigen Erde finden sich zwar in manchen Texten, hatten aber wohl keinen Einfluss auf die Akzeptanz der Idee einer Westroute nach Ostasien.
Eigentlich wurde es schon vor Jahrzehnten als Legende entlarvt, dass die mittelalterliche Christenheit an eine Erdscheibe geglaubt habe. Der Forschung ist längst klar, dass man dies spätestens ab dem 19. Jahrhundert bewusst falsch dargestellt hat. Es ging dabei vor allem darum, das Mittelalter als „finster und rückständig“ zu beschreiben.
Interesse daran hatten unter anderem die Gelehrten in Renaissance, Humanismus und Aufklärung. Im Übergang zur Neuzeit sollte das Mittelalter besonders düster wirken. Umso heller konnte dann die neue Epoche strahlen. Das „Licht“ der neuen Erkenntnisse wurde vom „Dunkel“ der früheren Zeiten abgegrenzt. Mit nachhaltigem Erfolg. Die Vorstellung von den dummen, unwissenden Bewohnern der mittelalterlichen Welt geistert immer noch durch Geschichtswerke, Schulbücher und Romane. Und auch in meinem Kopf hatte sich das festgesetzt.
In Wahrheit ging im Mittelalter jeder ernst zu nehmende Gelehrte von der Kugelgestalt der Erde aus. Auch für Dichter, Kaufleute, Mönche und Priester war dieses Wissen ganz selbstverständlich. Keinesfalls galt die Vorstellung von der Erdkugel als Ketzerei. Schließlich hatte schon Aristoteles, der große antike Philosoph, im 4. Jahrhundert vor Christus die Erde als Kugel beschrieben.
So vertraten unzählige mittelalterliche Geistliche dieselbe Meinung, darunter Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Hildegard von Bingen oder Meister Eckhart. Keiner von ihnen landete deshalb auf dem Scheiterhaufen. Niemals war die Idee einer flachen Erde Lehre der katholischen Kirche, wie oft behauptet wird. Selbst der Kirchenvater Augustinus sprach bereits im 5. Jahrhundert von der Erde als einer „kugelförmigen Masse“.
Im Zuge der Aufklärung sollte auch die Kirche in ein schlechtes Licht gerückt und als besonders rückständig dargestellt werden. Manche konstruierten diesen Konflikt bewusst, um zu propagieren, dass Wissenschaft und Religion nicht vereinbar seien. Interessant in dem Zusammenhang, dass zum Beispiel der Reichsapfel mindestens seit dem 11. Jahrhundert bei Kaiserkrönungen überreicht wurde. Und dieser bildet nicht etwa eine Frucht ab, sondern die „kreuztragende Weltkugel“ (lateinisch „Globus cruciger“). So erhielten etwa Heinrich II. (1014) und Heinrich der VIII. (1191) die goldene Kugel vom jeweiligen Papst.
Bei all den Recherchen kam mir schließlich noch der Fall „Galileo Galilei“ in den Sinn. Wurde dieser nicht von der Kirche verurteilt, weil er an die Kugelgestalt der Erde glaubte? Auch hier weit gefehlt. In dem berühmten Prozess ging es nicht um die Form unseres Planeten, sondern um dessen Stellung im All. Galilei vertrat die These, dass nicht die Erde, sondern die Sonne Mittelpunkt des Universums sei. Interessant dabei: Die Verurteilung Galileis war unter den zuständigen zehn Kardinälen strittig. Drei von ihnen weigerten sich, das Urteil zu unterschreiben.