Vier Tage nach der Vorstellung eines unabhängigen Gutachtens zum mutmaßlichen Missbrauchsfall im evangelischen Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein hat die Evangelische Kirche von Westfalen Konsequenzen aus den Erkenntnissen angekündigt. „Wir werden die Vorschläge des Berichts jetzt prüfen, etwa im Blick auf mögliche Pflichtverstöße Beteiligter und daraus gegebenenfalls noch abzuleitende Verfahren“, sagte der Theologische Vizepräsident Ulf Schlüter am Samstag vor der westfälischen Landessynode. Die Verfahren der Prävention und Intervention sollten verbessert werden.
Konsequenzen werde es insbesondere im Blick auf die kirchenmusikalische Ausbildung geben, sagte Schlüter vor dem digital tagenden Kirchenparlament. „In dem Bereich muss sehr genau hingeschaut werden, wie Schutzkonzepte anzupassen sind und wie Sicherheit für Auszubildende geschaffen werden kann“, betonte der Theologe, der die viertgrößte deutsche Landeskirche kommissarisch leitet. Die frühere westfälische Präses und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, war im November 2023 nach Kritik an ihrem Umgang mit dem Fall von beiden Ämtern zurückgetreten.
Die von der Landeskirche beauftragte Firma Deloitte hatte am Dienstag eine umfangreiche Untersuchung der Vorgänge in Siegen vorgestellt. Demnach soll ein Kirchenmusiker dort jahrzehntelang Schüler-Lehrer-Verhältnisse ausgenutzt und sexualisierte Gewalt gegen junge Orgelschüler verübt haben, auch in der Kirche. Sieben Betroffene erheben Vorwürfe gegen den Mann, der inzwischen im Ruhestand ist. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wurden eingestellt, weil die mutmaßlichen Taten entweder verjährt sind oder die Betroffenen damals nicht mehr minderjährig gewesen seien.
Kurschus war in den 90er Jahren Pfarrerin in Siegen und mit der Familie des Kirchenmusikers eng befreundet. Ihr wurde nach Bekanntwerden des Falls vor allem mangelnde Information über ihre Rolle vorgeworfen. „Unsere Kommunikationsprozesse waren nicht transparent und defizitär“, räumte Schlüter ein. Es habe auch keine klaren Standards und keine verlässlichen Verfahren gegeben. Die Mängel und Konflikte im Umgang der Landeskirche mit dem mutmaßlichen Missbrauchsfall müssten offen angesprochen werden, auch wenn sie unangenehm, peinlich und schmerzhaft seien.
In einer kurzen Aussprache plädierten mehrere Synodale dafür, sich jetzt mit den Konsequenzen des Versagens an verschiedenen Stellen und mit den von Deloitte vorgeschlagenen Verbesserungsmaßnahmen zu befassen. Nötig sei ein anderes Kommunikations- und Führungsverhalten mit Transparenz und Offenheit, hieß es unter anderem.
Eine Siegener Pfarrerin beklagte, Kurschus werde „zu einem Sündenbock gemacht für ein komplexes Versagen verschiedener Personen oder der Kirche“. Dagegen betonte Superintendent Steffen Riesenberg aus dem Kirchenkreis Gladbeck-Bottrop-Dorsten, die geltenden Kirchengesetze, Richtlinien und Schutzkonzepte müssten konsequent angewendet und mutmaßliche Missbrauchsfälle sofort gemeldet werden – im Fall Siegen war dies erst Monate nach dem ersten Hinweis erfolgt. Hier seien auch im Blick auf Kurschus Fragen offen.
Die Leiterin des Evangelischen Studienwerks Villigst, Friederike Faß, mahnte, von Missbrauch Betroffene dürften nicht dadurch „mundtot gemacht“ werden, dass man ihnen sage, sie müssten gnädig sein und vergeben. Nach Angaben der Siegener Superintendentin Kerstin Grünert begrüßen die Betroffenen im Siegener Fall die ausführliche und öffentlich gemachte Untersuchung. Dadurch sei „die Wirklichkeit von Betroffenen jetzt allgemeine Wirklichkeit und öffentliche Wirklichkeit“. Die „eklige Detailliertheit“ des Gutachtens müsse man aushalten.