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Expertin: Autismus ist keine Modediagnose – trotz Medienpräsenz

Nur wenige Spezialzentren, lange Wartezeiten: Autismus-Spektrum-Störungen werden oft verkannt oder erst spät behandelt. Eine Psychologin dringt auf mehr Aufklärung und eine bessere Versorgung.

Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sind nach Worten einer Expertin “doppelt unsichtbar”. Psychische Erkrankungen sehe man grundsätzlich niemandem an, sagte die Klinische Psychologin Isabel Dziobek am Mittwoch. Bei autistischen Personen komme hinzu, dass sie oft Schwierigkeiten in der Kommunikation hätten – und andere nicht ahnen könnten, woher diese kämen und wie man damit umgehen könne. Die Leiterin der Hochschulambulanz für Psychotherapie und Psychodiagnostik an der Berliner Humboldt-Universität äußerte sich bei einem Symposium der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung.

Inzwischen wisse man, dass von 100 Menschen ein bis zwei betroffen seien – vor 20 Jahren sei man noch vom Wert 0,1 ausgegangen. Dennoch sei die Versorgungslage in Sachen Diagnostik und Therapie “desolat”, kritisierte Dziobek: Es gebe etwa ein Dutzend spezialisierte Zentren in ganz Deutschland – mit Wartelisten von teils über einem Jahr. In einer Befragung unter Therapeutinnen und Therapeuten habe sich eine Mehrheit in der Behandlung von Autismus selbst als wenig kompetent eingestuft; 43 Prozent stimmten der falschen Aussage zu, dass Autismus durch Impfungen ausgelöst werden könne.

Deutschland sei in dieser Hinsicht eine “Versorgungswüste”, sagte die Wissenschaftlerin: “Vor allem, wenn man bedenkt, dass das Thema in den Medien relativ häufig vorkommt.” Das gesellschaftlich-mediale Bild habe sich gewandelt: Während im Spielfilm “Rain Man” (1988) ein männlicher Autist mit Intelligenzminderung im Mittelpunkt stand, zeige die Netflix-Serie “Love on the Spectrum” auch Frauen und Betroffene ohne Intelligenzminderung. Letzteres werde der vielfältigen Gruppe der Erkrankten eher gerecht; zugleich suchten gerade Betroffene ohne Intelligenzminderung häufig erst im Erwachsenenalter nach Hilfe.

Mehr Wissen über das Autismus-Spektrum brauche es auch deshalb, weil zwischen 40 und 80 Prozent der Betroffenen in Arbeitslosigkeit oder Erwerbsminderungsrente landeten – trotz guter Ausbildung. Ihre Lebenserwartung sei um bis zu 16 Jahre reduziert, die Suizidrate bis zu 9-fach erhöht, mahnte Dziobek. Beratungs- und Therapieangebote müssten zudem an die speziellen Bedürfnisse dieser verletzlichen Gruppe angepasst werden.