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Erinnerung an den Völkermord von 1994 lässt Ruanda nicht los

Verübt Israel im Gaza-Streifen einen Genozid? Darüber wird derzeit heftig gestritten. Fest steht, dass Ruanda 1994 einen der schlimmsten Völkermorde erlebte. Und eines der größten Versagen der Weltgemeinschaft.

Der Weg gleicht einem Abstieg in die Hölle: Der weiße Gebäudekomplex des “Genocide Memorial Center” liegt an einem der vielen Hänge von Ruandas Hauptstadt Kigali. Wer die Terrassen der Außenanlage hinabsteigt, kann nicht über die großen Betondeckel hinwegsehen, unter denen die Überreste von mehr als 250.000 Menschen begraben sind. Marmortafeln mit endlosen Namenskolonnen zeigen das Ausmaß des Völkermordes von 1994.

Damals schaute die Welt in den Abgrund: Wände voller Fotos erinnern an insgesamt 800.000 bis eine Million Opfer. Dazwischen Zettel mit hastig geschriebenen Kurznachrichten. “Thierry Ishimwe, neun Monate alt, ein schmales und schwaches Baby”, so wird eines der ermordeten Kinder vorgestellt. “Lieblingsgetränk: Muttermilch. Todesursache: Machete, in den Armen seiner Mutter.”

Am 6. April sind 30 Jahre vergangen, seit das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana, eines Hutu, abgeschossen wurde – und am nächsten Tag eine Orgie der Gewalt über das ostafrikanische Land hereinbrach. In 100 Tagen töteten radikale Hutu-Milizen Hunderttausende Angehörige der Tutsi-Minderheit und gemäßigte Hutu. Auf oft bestialische Weise.

Der Völkermord war vorbereitet: Radiosender verbreiteten Hassparolen, Macheten wurden gehortet, Milizen gegründet. Rund 2.500 UN-Blauhelme sahen dem Gemetzel tatenlos zu – ein großes Versagen der Weltgemeinschaft. Erst der Einmarsch von Exil-Tutsis der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) unter dem heutigen Staatspräsidenten Paul Kagame beendete die Massaker.

Der damalige US-Präsident Bill Clinton hat sich mehrfach für die Passivität der USA entschuldigt. Kofi Annan, späterer UN-Generalsekretär, brauchte Jahre, um als damaliger Verantwortlicher für die UN-Mission in Ruanda Verantwortung zu übernehmen.

Schon lange vorher war das Land ein Pulverfass. Dabei wurde der vermeintliche Rassenkonflikt zwischen den Hutu-Ackerbauern und den Tutsi-Viehzüchtern erst von den deutschen Kolonialherren und später von den belgischen Nachfolgern konstruiert. Vor allem die sogenannte erste Republik in Ruanda (1962-1973) war von Mordwellen an Tutsi, Flucht und Vertreibung geprägt. Im Gedächtnis der Hutu wiederum blieb das Tutsi-Massaker von 1972 an den Hutu im Nachbarland Burundi haften.

Kein Ruhmesblatt ist die Rolle der katholischen Kirche: Viele Menschen wurden in Gotteshäusern umgebracht oder von Priestern und Ordensleuten an ihre Verfolger ausgeliefert. Die Bischöfe haben sich für das Versagen Einzelner entschuldigt, eine generelle Verantwortung der Kirche allerdings zurückgewiesen. 2017 gestand dann aber Papst Franziskus doch eine Mitschuld der Kirche ein und bat um Vergebung.

Heute leben Täter und Opfer wieder Tür an Tür. Viele Tatorte sind als Gedenkstätten hergerichtet – mit aufgeschichteten Schädeln und Knochen, die mahnen, dass so etwas nie wieder geschehen darf.

Die Justiz arbeitete im Drei-Stufen-System: Die weniger schweren Fälle wurden auf örtlicher Ebene in den sogenannten Gacaca-Gerichten aufgearbeitet, einer Mischung aus moderner und traditioneller Justiz, die sich an die Ältestenräte in den Dörfern anlehnte. Bis 2012 wurden fast zwei Millionen Fälle verhandelt, 65 Prozent der Angeklagten verurteilt.

Die schwereren Delikte wurden an die staatliche Justiz übergeben. Für die auf oberster Ebene verantwortlichen Drahtzieher und Haupttäter war der 1994 gegründete Internationale Strafgerichtshof im tansanischen Arusha verantwortlich – eine historische Errungenschaft, weil damit erstmals seit 1948 ein Gericht Völkermord auf übernationaler Ebene juristisch verfolgte. Das Gericht war bis 2015 tätig, klagte 93 Personen an und verurteilte 62.

Bis heute aber wird international nach Verantwortlichen des Völkermords gefahndet, die sich ins Ausland absetzten. So wurde im Mai 2023 in Südafrika Fulgence Kayishema festgenommen. Er soll, zusammen mit einem katholischen Priester, die Ermordung von etwa 2.000 Tutsi-Flüchtlingen in einer Kirche organisiert haben. Auch die deutsche Justiz ist beteiligt: 2015 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt einen 58-jährigen Ruander zu lebenslanger Haft, weil er die Ermordung von 400 Tutsi-Flüchtlingen auf einem Kirchengelände befohlen und beaufsichtigt hatte.

Heftig umstritten ist die Rolle Frankreichs beim Genozid. Präsident Francois Mitterrand hatte das Regime von Präsident Habyarimana massiv unterstützt, auch mit Waffen. Erst ein von Präsident Emmanuel Macron 2018 in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht enthüllte das Ausmaß der französischen Verstrickung in den Völkermord – eine direkte Beteiligung an den Tötungen sieht der Bericht nicht. 2021 entschuldigte sich Macron an der Völkermord-Gedenkstätte in Kigali.