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„Er war der Chef“

50 Jahre nach Albert Schweitzers Tod leben nicht mehr viele Menschen, für die „le grand Docteur“ ganz persönlich die Weichen gestellt hat. Sonja Poteau (86) aus Günsbach im Elsass gehört noch dazu

/laif

Sieben Jahre lang arbeitete Sonja Poteau in Schweitzers Urwaldhospital in Lambarene, nur sieben von 86 Jahren, ein kleiner Teil eines langen Lebens, in dem die gelernte Krankenschwester weit in der Welt herumgekommen ist. Aber wie so oft, wenn sich ein Lebensweg mit dem einer außergewöhnlichen Persönlichkeit kreuzt, wird diese Zeit zum Dreh- und Angelpunkt der eigenen Biographie, mit dem alles Vorher und Nachher irgendwie in Bezug steht.

Poteaus Großonkel war Albert Schweitzers Lehrer in Günsbach, und sein Vater Louis verheiratete ihre Großeltern. Sie selber feierte ihre Hochzeit unter den Palmen von Lambarene, getraut von Albert Schweitzer. Im Ruhestand zogen die Poteaus von Paris zurück ins Elsass, um für zwei Jahrzehnte die Leitung des Albert-Schweitzer-Hauses in Günsbach zu übernehmen. Wer sie dort besucht, will meistens etwas über ihre Jahre mit Schweitzer hören – so schließt sich der Kreis.

„Eigentlich wollte ich nie wieder ins Elsass“

„Ich wollte eigentlich auf keinen Fall wieder ins Elsass“, sagt Poteau. Die Erinnerungen an die deutsche Besatzungszeit und die alliierten Luftangriffe, denen ihre beiden Eltern zum Opfer fielen, lasteten schwer auf ihr. Als sie mit 14 Jahren als Vollwaise in Rennes ankam, beschimpfte man dort die leidgeplagten Elsässer als Wendehälse, die es schafften, immer auf der Siegerseite zu landen. Poteau zog es in die Welt, nach Guinea, in den Senegal, in den Kongo, nach Indonesien, möglichst weit weg vom Elsass: „Doch für Albert Schweitzer bin ich wieder zurückgekehrt.“
Die sieben Jahre, die ihr Leben bestimmt haben, beginnen 1954 mit einer Anfrage bei Schweitzers Sekretärin Emmy Martin in dessen Europa-Zentrale in Günsbach. Nicht aus Schweitzer-Verehrung, sondern aus purem Pragmatismus: Denn das Rote Kreuz verlangt vor einem Auslands­einsatz eine kostspielige Schulung.
Zuvor hatte Poteau, damals noch als Sonja Müller, zwei Jahre lang Afrikaerfahrung im damaligen Französisch-Guinea gesammelt – im militärischen Dienst wohlgemerkt. Die andere Option, Entwicklungshilfe auf dem Ticket der kirchlichen Mission, hatte sie für sich ausdrücklich ausgeschlossen.
Von Emmy Martin ist bekannt, dass sie ein strenges Regiment führt. Der Empfang in Günsbach fällt nicht gerade überschäumend aus, die Antwort eindeutig: „Nein, kein Platz.“ „Das war ein Test“, hat Poteau später erkannt. Während sie enttäuscht heimfährt, empfiehlt Martin nach Lambarene ihre Einstellung. Die letzte Entscheidung, wie in allem, behält sich Schweitzer selbst vor. Der Briefverkehr ist erhalten: „Wenn die Sonja kommt, gib ihr viele Nüsse mit“, schreibt er nach Günsbach.
Einige Wochen nach dem Günsbacher Gespräch bekommt Sonja Poteau ein Telegramm: Die Anstellung sei geklärt, das Flugticket liege in Straßburg bereit. Im April 1954 steigt sie, nur einen kleinen Handkoffer als Gepäck, in Lambarene aus dem Flugzeug. Niemand erwartet sie. Die Post, die ihr Kommen ankündigt, kommt erst nach ihr in Afrika an.
Poteaus Erinnerungen an Lambarene, wo sie in der Geburtenstation Hunderten von Kindern auf die Welt half, sind farbig und lebendig: Da sind die Ziegen, die tagsüber durch das Spitalgelände streifen, um das Gras abzufressen, die dann nachts in einem Gehege zusammengetrieben werden, und deren Mist erst den spitaleigenen Gemüseanbau ermöglicht; da ist der Schneider Alois, der mit einer alten Singer-Nähmaschine auf dem Hof sitzt und alle Anforderungen aus dem Kopf erfüllt; da sind die Männer, die tagelang mit einem Boot über den Ogowe-Fluss rudern, um einen Kranken ins Hospital zu bringen und dabei laut singen, um die Geister des Flusses zu vertreiben.
Und da ist natürlich, über allem und in allem, Albert Schweitzer, le grand docteur, die Autorität über allem Regelwerk, das bis ins kleinste Detail von ihm selber ersonnen ist: die Kleidung (weiß, Tropenhelm, Strümpfe), die Bauweise der Häuser, die Tagesabläufe, der Umgang mit Mensch und Tier. „Wer einem Hund einen Tritt gab, bekam gleich von ihm ein strenges ,Bass uff!‘ zu hören.“ Von Anfang an wird sie von ihm geduzt: „Er war der Chef, und das haben alle respektiert“, sagt Poteau. Wohlgemerkt, alle: 1967, zwei Jahre nach Schweitzers Tod, erfährt sie von einer unangekündigten Versammlung von Medizinmännern auf dem Friedhof von Lambarene. Sie gipfelt in einer Verbeugung vor Schweitzers Grab.
Probleme klärt Schweitzer am liebsten im Vier-Augen-Gespräch. Er habe sich kritische Worte jederzeit angehört und darüber nachgedacht, sagt Poteau. Entscheidungen aber liegen bei ihm. Bis tief in die Nacht brennt das Licht in seinem Zimmer.

Albert Schweitzer konnte sich in Musik versenken

Abends, wenn sich die Stille über das Hospital senkt und die Lichter gelöscht werden, setzt sich Schweitzer oft an sein Tropenklavier. In die Geräusche des Urwalds mischen sich dann Präludien und Fugen von Bach – eine fast unwirkliche Klangkulisse, schildert die einstige Mitarbeiterin: „Sogar die Antilopen spitzten die Ohren.“ In diesen Minuten ist Schweitzer allein mit sich. Man habe den Raum zwar betreten dürfen, erinnert sich Poteau – aber niemand hätte es gewagt, Schweitzer in diesen Momenten mit einem profanen Alltagsproblem zu belästigen.
Im Jahr 1964, die frisch vermählten Poteaus haben Lambarene bereits seit einigen Jahren verlassen, kehren sie nochmals zu Schweitzer zurück, um ihre älteste Tochter Anne taufen zu lassen: „Da war er schon sehr müde.“ Ein Jahr später stirbt er in seinem Hospital. In den Erinnerungen von Sonja Poteau lebt Albert Schweitzer weiter: „Es ist meine Bestimmung, von ihm zu erzählen, und solange es geht, mache ich es.“