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Eine Stadt in Sachsen-Anhalt und ihre ganz besondere Attraktion

Rom hat die Katakomben, London die U-Bahn und Paris sein Museum der Abwasserkanäle. Doch wer in den Untergrund gehen will, muss nicht erst durch halb Europa reisen.

Manche Legenden halten sich erstaunlich hartnäckig. Zum Beispiel, dass sich in einem Höhlensee unter der Altstadt von Zeitz Gondelfahrten unternehmen lassen. Oder dass dort die Nazis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs das legendäre Bernsteinzimmer einlagerten. “Alles Quatsch”, sagt Andreas Wilke und schüttelt den Kopf. Der Mann vom Verein “Unterirdisches Zeitz” muss es wissen. Seit Jahren führt er Besucher durch die Unterwelt von Zeitz. Auch ohne See und sagenhafte Schätze kann die Stadt in Sachsen-Anhalt mit einer besonderen Sehenswürdigkeit punkten: einem schätzungsweise bis zu neun Kilometer langen System aus Gängen, Stollen und Kammern.

Deren gewundene Geschichte reicht Jahrhunderte zurück. Als früher Förderer des Tiefbaus ging ein gewisser Peter von Schleinitz in die Annalen ein. Der Bischof des untergegangenen Bistums Naumburg-Zeitz bestimmte 1452, dass niemand im näheren Umkreis von Zeitz Bier brauen oder ausschenken dürfe. Das sollte fortan ein Privileg der Stadtbewohner sein. Dies führte ziemlich zügig zu zweierlei: Erstens zu einem wirtschaftlichen Aufschwung von Zeitz, denn Bier war damals ein begehrtes Grundnahrungsmittel. Und zweitens zu einer steten Erweiterung von Kellern und Gewölben. Schließlich ließ sich der Gerstensaft in einem leicht feuchten Klima bei Temperaturen zwischen elf und 13 Grad am besten lagern.

Die Anlage der “Kühlschränke des Mittelalters” wurde durch die Geologie begünstigt. “Hier”, sagt Andreas Wilke und pocht gegen eine Wand. “Alles Buntsandstein.” Der ist vergleichsweise weich und ermöglichte es den Zeitzern, sich bis zu drei Etagen in die Tiefe zu graben. Ein Zeichen dafür, wie sehr das Brauereiwesen florierte. Mitte des 16. Jahrhunderts sollen die 1.800 Einwohner der Stadt in einem Jahr über eine Million Liter Bier in ihren Familienbetrieben hergestellt haben. Doch nach und nach versiegte dieser imposante Ausstoß. Schuld waren veränderte Konsumgewohnheiten und die Konkurrenz durch größere Unternehmen. Spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts verkamen die meisten Keller zu Müllhalden.

Ganz in der Versenkung verschwand das ausgeklügelte Gangsystem allerdings nie. So nutzten 1915 findige Lehrlinge einer Fleischerei einen unterirdischen Durchstieg zu einem Nachbarhaus, um sich an den dort von der Stadt eingelagerten Lebensmitteln zu bedienen. Knapp zehn Jahre später drohte ein Bauprojekt einen Delikatessenhändler in den Ruin zu stürzen. Die Fundamente erhoben sich über einem der unterirdischen Stollen, was zu ernstlichen Stabilitätsmängeln führte. Im Zweiten Weltkrieg nutzten die Zeitzer die Keller als Luftschutzbunker.

Danach gab es immer wieder Pläne, die Stollen für Besucher zu erschließen, erzählt Wilke. Aber das Misstrauen der DDR-Behörden – einer der Gänge verlief unterhalb der Polizeistation – habe eine gründlichere Erkundung letztlich vereitelt. Die Wende kam mit der Wende. Bereits Anfang 1990 gründete sich der Verein “Unterirdisches Zeitz”. Dessen Mitglieder holten zusammen mit ABM-Kräften in den Folgejahren tonnenweise Schutt und Erde aus den Gängen. “Da kann man heute noch stolz drauf sein”, sagt Wilke, der von Anfang an dabei war.

Seither haben rund 360.000 Menschen die Anlagen besichtigt. Anfangs kamen bis zu 20.000 Besucher pro Jahr. Doch das ist schon länger her, was auch daran liegt, dass es dem Verein an Nachwuchs fehlt und damit an Möglichkeiten, Führungen anzubieten. “Eigentlich unglaublich, dass ich mit 73 noch da unten rumkrauche”, meint Wilke. Für die Zukunft müsse man sich dringend etwas einfallen lassen. Sonst drohe die Attraktion von Zeitz ein weiteres Mal verschüttzugehen.

Besucher, die ausgestattet mit gelben Regenjacken und Bauarbeiterhelmen in die Unterwelt eintauchen, sind gleichwohl fasziniert. “Voll cool”, lautet das Urteil von John. Der 13-Jährige ist mit Oma und Opa hergekommen. Die Großmutter fühlt sich an Besuche in Tropfsteinhöhlen erinnert. Für den Großvater hat die Besichtigung mit einer alten Legende aufgeräumt: “Mir haben sie zu DDR-Zeiten immer erzählt, hier wäre ein großer See unterm Zeitzer Markt, auf dem könne man sogar Ruderboot fahren!”