Longyearbyen. Arktische Kälte. Schroffe Berge. Keine Bäume, Pflanzen nur im Sommer. Die Tiere, die hier leben, haben sich der Umgebung angepasst: Die Rentiere haben kurze Beine und flauschiges Fell. Die Füchse sind weiß, die Eisbären groß und grausam. Was, um Himmels Willen, treibt Menschen hierher, ans Ende der Welt, kurz vor dem Nordpol?
Pastor Leif Magne Helgesen wurde von seiner norwegischen evangelisch-lutherischen Kirche nach Spitzbergen geschickt. Das ist schon zehn Jahr her. Heute ist der Theologe 55 Jahre alt. Er fühlt sich wohl, sagt er. Obwohl die Sonne vier Monate lang, vom 26. Oktober bis zum 14. Februar, nicht scheint und elf Wochen sogar ständige Nacht ist?
Ja. Die Dunkelheit sei ja nicht schwarz. Der Mond scheint, die Sterne leuchten. Die schneebedeckten Berge reflektieren das Licht und schälen sich aus dem dunklen Himmel heraus wie große weiße Wände. Und dann die Polarlichter, die oft am Himmel tanzen und die arktische Szenerie in mystisch grünes Licht tauchen. Am 15. Februar lugt die Sonne erstmals wieder über den Rand der Berge. Grund zu feiern. Irgendwie fühlt sich das dann an wie ein Ostern hoch zwei. Eine beeindruckende Laune der Schöpfung.
Spitzbergen – Arche Noah der Welt
Die aber ist bedroht. Das wissen auch die Menschen auf Svalbard, wie die Inselgruppe auf Norwegisch heißt. Ein paar Jahrzehnte früher war der Is-Fjord, an dem Longyearbyen liegt, im Winter zugefroren. Aber die Winter werden wärmer. Das Wasser auch. So warm, dass immer mehr Fische in den Fjord kommen. „Das sind Signale der Natur, denen wir Beachtung schenken sollten“, ahnt Pastor Helgesen. Also überlegte er mit den Polarforschern der kleinen Universität von Longyearbyen, was zu tun ist.
In gewisser Weise ist Spitzbergen eine Art Arche Noah der Welt: Hoch oben über dem Flughafen in der Felswand, tief im Berg, lagert Saatgut aus aller Welt, mehr als zwei Milliarden Saatproben sollen es werden. Die Anlage ist vor dem Anstieg des Meeresspiegels genauso gefeit wie vor Flugzeugabstürzen und Atomkatastrophen. Eine Arche Noah der Moderne in Zeiten der Dürre und des Artensterbens.
Fatalerweise hat Spitzbergen selbst an der Klimaveränderung mitgewirkt. Noch heute sieht man die Eingänge stillgelegter Kohlebergwerke an den Berghängen. Dass hier eine Stadt entstand, hat mit Kohle zu tun: 1906 gründete US-Unternehmer John Munroe Longyear die Stadt. Die Bergindustrie boomte. 1943 dann die große Zäsur: Spitzbergen war für die Militärs ein strategisch wichtiger Punkt. Deutsche Truppen zerbombten den Ort. Nur wenige Baracken erinnern heute an das alte Longyearbyen.
Spektakuläre Polarnacht
Die Kirche wurde 1958 neu errichtet. Heute zieht sich die Stadt vom Fjord ins Tal hinein, viele Fertighäuser trotzen der Kälte und dem Schnee. Energie ist lebenswichtig jetzt, gerade im Polarwinter. Auf Fremde wirkt das alles sehr gemütlich. Aber 24 Stunden Dunkelheit kann auch depressiv machen. Touristen hingegen finden die Polarnacht spektakulär. Sie lassen sich von der Dunkelheit nicht schrecken. Dick eingehüllt gehen sie auf Sightseeing.
Einer der Guides kommt aus Deutschland. Heiko lebt seit vielen Jahren in Longyearbyen. Im Sommer schippert er mit Touristen über den Fjord, sucht Eisbären und Wale. Derzeit führt er Touris zu den schönsten Plätzen in Longyearbyen. Alles zeigt er ihnen, zuerst die neue Brauerei, in der seit einem Jahr mit Gletscherwasser das erste Bier Svalbards gebraut wird. Dann jagt er den Touris Schauer über den Rücken, wenn er vor dem alten Friedhof trocken sagt: „Der Permafrostboden bringt alles an die Oberfläche“.
Tödliche Lawine
Der Guide schildert seine Begegnungen mit Eisbären. Und erzählt von einem Notfall, er war verletzt und wurde schnell nach Tromsö ausgeflogen. Im örtlichen Krankenhaus arbeiten nur zwei Ärzte und vier Krankenschwestern, da ist keine fachärztliche Behandlung möglich. Guide Heiko führt die Gäste auch in den Weinkeller im Huset, einem der größten in Europa. Hier gibt es Walfleisch zu essen. Minkwal. Leicht geräuchtert, schmeckt nicht schlecht. „Gleich gegenüber wohnt Santa Claus“, erzählt Heiko und zeigt auf die Lichter eines der stillgelegten Bergwerke. Kinder können zu Weihnachten am Fuß des Berges ihre Wunschzettel in einen Briefkasten werfen.
Der Wind schneidet den Touristen ins Gesicht. Das Wetter ist unberechenbar. Kurz vor Weihnachten kam ein heftiger Sturm, der den Schnee über die Berggipfel wehte. Eine Lawine löste sich und raste auf die Stadt, schob einige Häuser 80 Meter weit wie Streichholzschachteln. Zwei Tote, acht Verletzte. Pastor Helgesen hatte viel zu tun. Der Ort trauerte. Er selbst auch, er verlor einen seiner besten Freunde. In solchen Zeiten wird die Kirche zum Trauerort für die ganze Bevölkerung.
Wenn der Pastor in seiner Kirche nur Zuschauer ist
Wie viele Protestanten sind, weiß er gar nicht genau, vielleicht 80 Prozent? Auch Katholiken leben hier, ebenso Orthodoxe. Mehrmals kommen der zuständige katholische und der orthodoxe Priester nach Longyearbyen und feiern dann in der lutherischen Kirche ihre Messe. Seine Kirche steht selbstverständlich anderen Konfessionen offen, sagt Helgesen.
Eine einladende Kirche ist seine Vision, offen für alle. Manchmal mit seltsamen Folgen. Da muss Pastor Helgesen uneingeladen in der Bank sitzen bleiben, wenn der katholische Priester mit den Gläubigen Abendmahl feiert. „Dafür kommen die Katholiken zu unserem Abendmahl, wir Evangelische laden schließlich alle ein“, freut er sich. Das sei eben lutherische Theologie.
Draußen zieht ein Schneesturm auf. In der Kirche ist es warm. Eine wohlige Oase in der arktischen Kälte. 24 Stunden am Tag ist sie geöffnet. Für alle. Kein schlechter Grund, hierher zu kommen. Und zu bleiben.