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Eine jüdische Kindheit im ländlichen Lippe

Vernon Katz beschreibt in seinen Memoiren seine Lipper Heimat der 1930er sehr anschaulich – bis hin zu ihrer Zerstörung durch die Nationalsozialisten.

Vernon Katz im Alter von zehn Jahren im hessischen Lauenbach: Abschiedsbesuch bei der Familie seines Vaters
Vernon Katz im Alter von zehn Jahren im hessischen Lauenbach: Abschiedsbesuch bei der Familie seines VatersVerlag für Regionalgeschichte, Bielefeld

Die Geschichte beginnt mit einer Beerdigung. Siegfried Silberbach wird zu Grabe getragen, Viehhändler und hoch angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde in Schötmar in Lippe. Es ist eine beeindruckendes Ereignis; ein langer Trauerzug folgt dem Sarg durch die kleine Stadt zum Friedhof.

Nicht dabei: die nicht-jüdischen Nachbarn. Gerade einmal drei Monate zuvor, im September 1935, sind die Nürnberger Gesetze in Kraft getreten, die Juden und weitere Minderheiten antisemitisch und rassistisch diskriminieren. Noch gibt es in Schötmar keine Ausschreitungen gegen die jüdischen Mitbürger, die einem der Ihren die letzte Ehre erweisen. Einige Nachbarn nehmen sogar die Hüte ab, als der Sarg auf der Pferdekutsche vorbeizieht. Aber andere kichern, glotzen oder reißen Witze.

Erzählung mit Augenzwinkern

Die feindselige Atmosphäre spürt auch schon der achtjährige Vernon Katz, Enkel des Verstorbenen, der, in seinen feinsten Matrosenanzug gekleidet, im Trauerzug mitgeht. Seine Erinnerungen hat er in dem Buch „Der blaue Salon und andere Torheiten“ festgehalten. Er erzählt von seiner jüdischen Kindheit im ländlichen Deutschland, kurz vor und während der Machtergreifung der Nationalsozialisten – und von der Flucht nach England in letzter Minute.

Mit Augenzwinkern und Lust an teilweise skurrilen Details beschreibt der Autor sich und seine Familie mit allen Stärken und Schwächen: seinen herrischen, aber großzügigen Großvater Siegfried, der mit seiner frommen Frau Bertha im Dauerclinch lebte. Seine Mutter Emmy, Matriarchin mit einem Hang zu Höherem. Seinen Vater Herrmann, einen geschickten Kaufmann, der vor der Heirat in Elsaß-Lothringen tätig gewesen war und die französische Lebensart liebte.

Und sich selbst: ein ungeschicktes, unsicheres Einzelkind, verhätschelt und wegen seines kaum zu sättigenden Appetits leicht übergewichtig – aber gesegnet mit Intelligenz, einer außerordentlichen Beobachtungsgabe und einem ironisch wohlwollenden Blick auf sich und seine Mitmenschen.

Die Eltern Emmy und Herrmann Katz
Die Eltern Emmy und Herrmann KatzVerlag für Regionalgeschichte, Bielefeld

Vernon Katzs Schilderungen versetzen in eine Welt, die durch die Massenmorde der Nazis vernichtet wurde. Jüdisch sind die meisten Menschen, von denen er erzählt – auf ganz unterschiedliche Weise. Sein Vater stammt aus dem jüdischen Priestergeschlecht und hält sich mit tiefer persönlicher Frömmigkeit weitgehend an die orthodoxen Vorschriften. Seine Mutter dagegen sieht religiöse Regeln eher locker, was bei Besuchen bei der strenggläubigen Schwiegerfamilie zu manch komischer Situation führt. Für Vernon macht sich die Frömmigkeit unter anderem an der Sache mit der Wurst fest: Er liebt fettige Schweinesalami – für seine Mutter kein Problem, für andere Familienmitglieder undenkbar. Aber man arrangiert sich: Die Original-Salami gibt es bei Ausflügen in die Großstadt Bielefeld, während man sich bei Familienfesten mit der koscheren Alternative aus Rindfleisch behilft.

Hang der Mutter zum Perfektionismus

Die Energie der Mutter ist neben der Leitung der Bürstenfabrik auf die Erziehung ihres Sohnes gerichtet. Reines Hochdeutsch soll er sprechen und feine Kleidung tragen, was ihn bei seinen Altersgenossen zum Außenseiter macht. Über das Foto neben dem Misthaufen wundert sich der erwachsene Autor Jahrzehnte später – es war nicht die Art seiner Mutter, ihn auf diese Weise abzubilden.

Eine dritte Leidenschaft treibt Emmy Katz an: die Vergrößerung und Verschönerung des Familienbesitzes. Noch Mitte der 1930er Jahre richtet sie mit dem „Blauen Salon“ ein bürgerliches Schmuckstück mit gediegenen Möbeln und Stoffen ein. Dabei verdrängen sie und ihr jüdisches Umfeld die Bedrohung durch die Nationalsozialisten. Zu tief ist das Vertrauen in die Größe der deutschen Zivilisation. Erst als die Situation in der Bürstenfabrik immer schwieriger wird, reifen Pläne zur Auswanderung. In mehreren Ausflügen nach Holland wird ein Teil des Haushalts bei Bekannten deponiert.

Nach der Reichspogromnacht wird der Vater im KZ Buchenwald inhaftiert und die Mutter zu ihrem eigenen Schutz kurzzeitig in Bethel untergebracht. Als die Eltern zurückkommen, betreiben sie die Auswanderung endlich mit voller Kraft. Vernon verlässt Deutschland als erster mit einem Kindertransport in Richtung England – voller Angst, war er doch zuvor noch nie von der Familie getrennt. In England findet er jedoch Menschen, die sich großzügig des Flüchtlingsjungen annehmen.

Neuanfang in England

Schließlich, im August 1939, kurz vor Kriegsbeginn, schaffen es auch die Eltern auszureisen, wobei sie den Großteil ihres Besitzes den Nazis überlassen müssen. Großmutter Bertha bleibt in der Obhut von Diakonissen zurück. Mühsam erkämpft sich die Familie einen Neuanfang in England.

Im Jahr 1988 kehrt Vernon Katz an die Orte seiner Kindheit zurück. Er macht es sich alles andere als leicht mit dem Versuch, einen Zugang zu seiner alten Heimat und dem Volk der Täter, das darin lebt, zu finden. Fassungslos hört er „Wir habe doch auch gelitten“ und ähnliche Versuche, die Verantwortung am Holocaust zu relativieren. Gleichzeitig müht er sich, Deutsche nicht als Kollektiv, sondern als Einzelpersonen zu sehen. Denn, so seine Erkenntnis: Menschen als Stereotype zu sehen, entmenschlicht sie – und „so beginnen Endlösungen“.

• Vernon Katz: Der Blaue Salon und andere Torheiten. Eine jüdische Kindheit im ländlichen Deutschland der 1930er-Jahre. Verlag für Regionalgeschichte, 405 Seiten, 28 Euro.