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Eine Frage des Gewissens

Freiheit ist eine grundlegende Errungenschaft der Neuzeit: Jeder Mensch muss und darf für sich selbst entscheiden. Was dabei aber leicht übersehen wird: Freiheit braucht Verantwortung

„Du musst selber denken!“ Zig tausend Menschen skandieren diesen Satz. Heute mag das wie der Jubelruf einer Querdenker-Demo klingen. Vor vier Jahren war das etwas ganz anderes: nämlich der Chorgesang beim Pop-Oratorium „Luther“, dem Ereignis des Jubiläums 500 Jahre Reformation.

Reformationstag. Allgemein wird er als Geburtstag der evangelischen Kirche angesehen. Theologisch gilt er auch als Meilenstein in der geisteswissenschaftlichen Entdeckung des Individuums.

Das Individuum: Der einzelne Mensch und seine Selbstbehauptung gegenüber Obrigkeiten und gesellschaftlichen Normen – das war auch schon vor der Reformation ein Thema der Philosophen. Es lag in der Luft. Aber Luther, Zwingli und Calvin verhalfen der Idee zum Durchbruch. Ihre an sich religiösen Überlegungen wirkten wie ein Brandbeschleuniger. Nicht zuletzt, weil europäische Fürsten sich den Streit der Denker dienstbar machten und ihn als Grund (oder Vorwand) für Ränkespiel und Kriege nutzten. Du Mensch, du stehst vor Gott. Keine Kirche, kein Papst, kein Bischof, kein Kaiser oder König können dir die Entscheidung abnehmen. Du musst selber entscheiden.

Du musst selber entscheiden. Wenn man sich Deutschland, Europa, im Grunde die gesamte so genannte westliche Welt in den vergangenen Monaten anschaut, könnte man meinen: Wenn auch sonst Kirche und christlicher Glaube kaum eine Rolle spielen – diese eine Botschaft der Reformation ist angekommen. Und wie.

Klima: Mir doch egal, was die Fachleute sagen. Ich glaube das nicht. Migration: Wir brauchen Zuwanderung, weil unsere Sozialsysteme sonst nicht mehr funktionieren? Mir doch egal! Corona, Abstand, Maske, Impfung? Ich glaube das nicht.

Das Recht auf eigene Meinung wird zum Totschlag-Argument. Regel Nummer eins – jeder macht seins.

Ist das nicht die logische Konsequenz von „Du musst selber denken“?
„Nein“, sagt Michael Kunze. Der preisgekrönte Autor hat den Text für „Luther“ geschrieben, und so will er die Hauptaussage des Oratoriums nicht missverstanden wissen. „Selber denken“, sagt Kunze, „setzt voraus, sich gewissenhaft mit einer Frage zu beschäftigen“. Gewissenhaft. Das ist das Schlüsselwort.

Für Luther und andere Denker an der Schwelle zur Neuzeit war klar: Freiheit ist nicht Beliebigkeit. Für sie gab es eine Instanz, der gegenüber man sich verantwortet. Gewissen, Weltgeist, Logos, Gott, Vernunft – wie immer man diese Instanz nennen mag. Es geht um die grundlegende Idee: Die Erde dreht sich nicht alleine um dich. Jeder andere neben dir, das Größere und Ganze – sie zählen genauso.

In dieser Spannung bewegt sich eine verantwortungsvolle Entscheidung: Ich – und die anderen. Freiheit ist nie losgelöst, kein Wert an sich, sondern eingebettet in die Frage: Was kann ich denn wollen, damit es bestmöglich allen dient?

Du musst selber denken. Und zwar verantwortungsvoll und vernünftig: Diese Botschaft des Reformationstages ist uralt – und hochaktuell.