Der Gemeindekirchenrat in Wittenberg will die antjüdische Schmähplastik an der Schlosskirche nicht vom Kirchendach entfernen und neu dokumentieren, wie von einer unabhängigen Kommission vorgeschlagen. Ein Kommentar
Von Marion Gardei
Zwei Jahre lang hatte ein von der Kirchengemeinde eingesetzter Expertenbeirat aus Historiker*innen und Theolog*innen einschließlich eines Rabbiners nach einer angemessenen Lösung gesucht, wie mit der antijüdischen Schmähplastik an der Wittenberger Schlosskirche umzugehen sei. Er kam zu der klugen Lösung, sie vom Kirchendach zu entfernen und zukünftig – eingebettet in eine aufklärende Dokumentation zu ihrer menschenverachtenden und gotteslästerlichen Herkunft – in einem Geschäft in der Nähe des Kirchplatzes auszustellen. So sollte durch sie über die Geschichte und Auswirkung kirchlicher Judenfeindschaft aufgeklärt werden.
Beratungsresistenter GKR?
Die Weisheit der unabhängigen Kommission wurde allerdings in der vergangenen Woche seitens des Gemeindekirchenrates (GKR) in den Wind geschlagen. Man fragt sich: Wurde das Gremium etwa nur einberufen, um die Empfehlung zu geben, die dem GKR passt? Ist das Argument des Theologen und immerhin Präsidenten der christlich-jüdischen Zusammenarbeit vergessen? Er sagt, dass er in keiner Kirche beten könne, auf der eine Plastik thront, die den Namen unseres gemeinsamen Gottes in den After einer Sau steckt. Sollen sich Wittenberger Christ*innen, die so fühlen und denken, eine andere Gemeinde suchen? Am Reformationsfest wurde wieder auf allen evangelischen Kanzeln nach der notwendigen Erneuerung der Kirche gerufen, aber eine Judensau an der Kirche kann man nicht aufgeben?
Das Argument des GKR, die vulgäre und verunglimpfende Plastik sei ein notwendiger „Pfahl im Fleisch“ der Kirche, damit sie ihre frühere Judenfeindschaft in Theologie und Geschichte nicht vergesse, ist merkwürdig. Denn daran kann man genauso gut und sogar besser erkenntlich erinnern, wenn man die Plastik zur Anschauung und mit geeigneter Dokumentation an einen nahen Ort verbringt.
Der Gemeindekirchenrat beruft sich bei seinem Beschluss auf das Urteil des Bundesgerichtshofs im Juni, wonach das Relief trotz des antijüdischen Inhalts an seinem historischen Ort verbleiben kann (AZ: VI ZR 172/20). Allerdings steht in dieser Beurteilung des Gerichtshofes nicht, dass man es dort belassen muss. Im Gegenteil wird eine sehr deutliche Distanzierung von solch judenfeindlicher Gesinnung gefordert.
Es an der Kirche zu belassen, spricht eine andere Sprache und ist in seiner Symbolkraft nicht durch Erklärtexte aufzufangen. Auch nicht durch künstlerische Verfremdung, die noch zusätzlichen einen Fokus auf die obszöne Darstellung legt:
Mit den mörderischen Folgen der Judenfeindschaft kann man nicht spielerisch umgehen. Christliche Judenfeindschaft und rassistischer Antisemitismus haben eine große Schnittmenge, die am Ende auch zum Mord an den sechs Millionen Jüdinnen und Juden im Holocaust beigetragen hat.
Jeder Fall ist anders
In unserer Landeskirche haben wir seit dem 1. April ein Kirchengesetz zum kirchlichen Umgang mit Darstellungen, die von judenfeindlichem, rassistischem und nationalsozialistischem Gedankengut geprägt sind. Es schreibt vor, diese aus dem liturgischen Gebrauch zu entfernen zugunsten einer pädagogischen oder musealen Verwendung. Diese veränderte Kontextualisierung entspricht dem Rat der Expert*innenkommission im Wittenberg. Im neuen Kirchengesetz werden allerdings keine Patentrezepte festgeschrieben, weil eben jeder „Fall“ anders ist. Das sehen wir an den in der EKBO leider auch vorhandenen Darstellungen, die jüdische Menschen mit einem Schwein herabwürdigend zusammenbringen.
Im Fall des Brandenburger Doms findet sich diese im Kreuzgang, der jetzt zum Museum gehört – also bereits im musealen Bereich. Inzwischen wurde diese mit einer Expertenkommission gründlich erforscht und neu dokumentiert: vor Ort in einem kurzen Erklärtext, einem Flyer sowie einem jetzt erscheinenden Buch, das detailliert Geschichte, Symbolik und die neuesten Forschungsergebnisse über „sus et iudaei“ aufzeigt. In der Maria-Magdalenen-Kirche in Eberswalde muss diese Arbeit noch geleistet werden. Wir sind auf dem Weg, unsere „Hausarbeit“ zu machen, ihre Geschichte aufzuarbeiten und ihren Standort zu hinterfragen.
Ohne die Aufdeckung der eigenen Geschichte christlicher Judenfeindschaft ist unser Pogromgedenken unglaubwürdig. Wenn wir am 9. November unsere Schuld bekennen – unsere Gefangenheit in einer kirchlichen Tradition, die sich über Israel erheben wollte, die Israel enteignet und sich selbst zum wahren Israel erklärt hat – dann darf es keine blinden Flecken geben, auch nicht auf den Darstellungen in unseren Kirchengebäuden, die zur Gemeinde und nach außen symbolhaft „sprechen“. Die Fehlentscheidung des Wittenberger GKR, die weit über ihre Kirchenmauern hinausstrahlt, beunruhigt und beschämt mich als Christin.