Von Stefan Korinth
„Das Meer ist voll von Toten. Voll, voll, voll“, rief Vito Fiorino damals, als er mit seinem Fischerboot in den Hafen der kleinen italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa zurückkehrte. 47 Menschen konnte der 66-Jährige retten, sah aber auch noch mehr sterben. Die halbe Nacht hatten hunderte afrikanische Flüchtlinge auf dem Meer um ihr Leben gekämpft, nachdem ihr Boot gekentert war.
Morgens, als die Fischer das Unglück bemerkten, fuhren 30 Boote hinaus, um zu helfen. Die Fischer konnten draußen nicht mal richtig steuern, da so viele Leichen umhertrieben. Die alarmierte Küstenwache kam spät und machte dann nur Fotos. Viele Flüchtlinge versanken vor den Augen der Fischer völlig kraftlos, stumm und mit weit aufgerissenen Augen. „Diese Tragödie hat die Menschen von Lampedusa sehr gezeichnet“, sagte Fiorino unter Tränen. Auch vielen Besuchern standen während seiner Schilderungen und bei der Lesung zuvor Tränen in den Augen.
Es war bereits die 100. Veranstaltung dieser Art des Projekts „Unser Herz schlägt auf Lampedusa“. Nach dem Unglück am 3. Oktober 2013, bei dem mehr als 360 Menschen ertranken, initiierte der Deutsch-Italiener Antonio Umberto Riccò das Projekt in Hannover. „Damals saß ich vor dem Computer, und es kamen immer mehr furchtbare Meldungen über die Katastrophe herein“, erzählt der frühere Diplomat.
Ihre Aussagen durften nicht vergessen werden
In den folgenden Tagen las Riccò die Aussagen von Überlebenden, von zur Rettung geeilten Fischern und anderen Zeugen. „Ihre Aussagen waren so stark und menschlich, das durfte nicht vergessen werden“, erläutert er. Riccò gründete nicht nur die Gruppe, sondern schrieb aus den gesammelten Aussagen der Betroffenen auch das Stück „Ein Morgen vor Lampedusa“. Ende März 2014 hatte es Premiere.
Wechselnde Formationen trugen es seitdem deutschlandweit, aber auch in Italien vor. Zwischen den jeweiligen Passagen sang der italienische Komponist Francesco Impastato bewegende Lieder, begleitet von Bildern geretteter Flüchtlinge – doch auch ihr Elend auf der kleinen Insel ist darauf zu sehen. Bei den schrecklichen und emotionalen Schilderungen der Katastrophe war immer wieder „Oh Gott!“ und verzweifeltes Aufstöhnen aus dem Publikum zu hören.
„Ich bin sehr bewegt. Mein Leben hat sich seit damals sehr verändert“, gestand Fischer Vito Fiorino.
„Seit 22 Jahren helfen wir auf Lampedusa schon gestrandeten Flüchtlingen. Aber so ein Unglück hatten auch wir noch nicht erlebt.“ Zum zweiten Jahrestag kamen kürzlich 14 Überlebende zurück nach Lampedusa. Fünf von ihnen hatte Fiorino aus dem Wasser gezogen. „Damals sah ich in ihren Augen nur Verzweiflung. Aber jetzt leuchten ihre Augen wieder sehr schön.“