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Ein Instrument für die Ewigkeit

Die Orgel in Ostönnen gilt als die älteste der Welt. Experten sind begeistert von ihrem reinen Klang. Leider kann bis heute nicht nachvollzogen werden, wer der Erbauer dieses bei Musikern so beliebten Instrumentes ist

Mit Superlativen und Einmaligkeiten ist das so eine Sache. Oft halten sie nicht das, was zuvor marktschreierisch versprochen wurde. Die Orgel der Andreaskirche im beschaulichen Ostönnen darf sich auch mit einem Superlativ schmücken. Aber sie hält, was sie damit verspricht: Sie ist die nachweislich älteste Orgel der Welt und damit ein ganz und gar außergewöhnliches Instrument, das jährlich Orgelfans von nah und fern anlockt.
„Im Laufe der Zeit“, so Helmut Reinecke, „hat sich der gute Ruf unserer Orgel mit dem einmaligen Klang der gotischen Pfeifen weit herumgesprochen. Besucher aus den Niederlanden, der Schweiz und sogar den USA waren keine Seltenheit.“

Diese Kirche gehört seit Kindheitstagen zum Leben

Der Ostönner Reinecke, der lange als Hausarzt in der kleinen Börde-Gemeinde unweit von Soest praktiziert hat, hat eine ganz besondere Beziehung zur Andreaskirche und seinem weltberühmten Instrument: „Die Ostönner Kirche gehört schon seit Kindheitstagen zu meinem Leben.“ Taufe, Konfirmation, diamantene Hochzeit der Eltern, Konfirmation der Tochter – alles fand in dem Gotteshaus statt, das 1169 das erste Mal urkundlich erwähnt wurde und mit zu den schönsten und am besten erhaltenen Dorfkirchen Westfalens gehört.
Nachdem Reinecke die Hausarztpraxis in seinem Heimartort übernommen hatte, rückte zunehmend die Orgel in den Fokus seines Interesses. Dass es sich hier um ein ganz besonderes Instrument handelte, war vielen Ostönnern klar. Gemeindepfarrer Martin Gocht hatte schon frühzeitig lobenswerte Weitsicht bewiesen und jegliche bauliche Maßnahmen an ihr untersagt: „Erst wollen wir wissen, wie alt die Orgel ist. Erst muss ihre historische Bedeutung untersucht werden.“
2003 wurde dann wissenschaftlich bestätigt, was die Orgelsachverständigen der Evangelischen Kirche von Westfalen und des Westfälischen Amtes für Denkmalpflege, Manfred Schwarz und Winfried Schlepphorst, mit ihren Untersuchungen zuvor bereits angedeutet hatten: Ein Großteil – nämlich 326 – der über 500 Orgelpfeifen konnte auf spätestens 1500 datiert werden.
Als der belgische Orgelexperte Koos van de Linde in Ostönnen anrückte und die für die Restaurierung ausgebauten Pfeifen einer genauen Untersuchung unterzog, bestätigte er anhand von Signaturen diese Vermutung. Die größten Pfeifen wurden für diese Expertise sogar ins Stadtkrankenhaus von Soest „eingewiesen“. Dort wurden sie in der Gastroenterologie mit dem Endoskop untersucht und konnten ebenfalls entsprechend früh datiert werden. Damit war klar, dass ein großer Bestand der Pfeifen aus der Gotik stammte.
Doch es kam noch besser und ließ die gesamte Fachwelt weltweit aufhorchen. Die von der Lokalpresse als „Sensation von Ostönnen“ und „Ostönner Orgelkrimi“ gefeierte Entwicklung nahm Gestalt an. Die holztechnische Begutachtung  ergab nämlich, dass im Ornamentwerk neben dem Notenpult Hölzer von 1480, 1461 und 1447 verbaut worden sind.

Ins Rampenlicht der Fachwelt gerückt

Als dann im September 2003 weitere dendrochronologische Untersuchungsergebnisse veröffentlicht wurden, war die Sensation endgültig perfekt: Am Gehäuse waren Holzteile von der Unterseite eines alten Blasebalgs gefunden worden. Dieser war aus Bäumen geschnitten worden, die spätestens 1416 gefällt worden sind. Die Bohlen der Windlade stammen sogar von 1410.
Damit rückte die Ostönner Orgel endgültig in das Rampenlicht der Fachwelt und wurde sogleich auf einer Stufe mit den Orgeln in Rysum, Kiedrich, Sion oder Bologna geführt. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ostönner Orgel sogar die älteste unter diesen ist“, mutmaßt der renommierte Musik- und Kulturwissenschaftler Wolf Kalipp. „Das Instrument hat eine einzigartige und außergewöhnliche Bedeutung, zumal hier eine so große Zahl von Pfeifen – weit über 50 Prozent – und dazu noch die Lade und Teile des Gehäuses aus der Entstehungszeit der Orgel stammen.“
Trotz aller wissenschaftlicher Untersuchungen wird allerdings eine Frage vermutlich immer unbeantwortet bleiben: Wer hat das jahrhundertealte Schmuckstück denn gebaut? „Darüber ist leider nichts bekannt. Zur damaligen Zeit war ein Orgelbauer namens Thomas in Soest registriert. Möglicherweise hat er die Orgel gebaut. Ein belastbarer Beleg dafür aber findet sich nicht“, bedauert auch Reinecke diesen weißen Fleck in der Historie der Ostönner Orgel.
Fest steht immerhin, dass sie ursprünglich gar nicht in Ostönnen stand, sondern für die Kirche Alt St. Thomä gebaut worden ist. Dort wurde sie 1586 von einem Meister Bartholdus repariert. 1721/1722 wurde sie dann durch Johann Patroclus Möller nach Ostönnen versetzt. Für die folgenden Jahre finden sich zahlreiche Hinweise auf Erweiterungen, Ergänzungen und Reparaturen in den Archiven, sodass die Geschichte relativ lückenlos nachgewiesen kann – mit Ausnahme des Erbauers eben.
Aber es ist nicht nur das beachtliche Alter, das dieses Instrument zu einem ganz besonderen macht. „Mich fasziniert immer wieder der reine Klang jedes einzelnen Tones. Dabei beeindruckt mich besonders die Klarheit der Töne und der Melodie, wie ich dies nur an der Ostönner Orgel hören kann“, beschreibt Reinecke.
Ein Eindruck, den der australische Organist Brett Leighton mit großer Begeisterung teilt: „Jedes Instrument hat eine eigene Persönlichkeit, die von ihrem Erbauer und ihrer Zeit erzählt. Diese Orgel und ihre Musik drücken Zeitlosigkeit aus. Und sie bietet die einzigartige Gelegenheit, Musik aus dem Spätmittelalter genauso zu hören, wie sie damals vor mehr als 500 Jahren gespielt wurde.“
Mit der Ernennung von Leon Berben zum Titular-Organisten Anfang August hat der Freundeskreis der Ostönner Kirche die Bedeutsamkeit dieses Instrumentes nun noch weiter aufgewertet. Der in Köln lebende und in den Niederlanden geborene Ausnahmeorganist weiß diese Auszeichnung mehr als zu schätzen: „Ich mag diese Orgel und bin immer wieder begeistert, wenn ich sie spielen darf. Man hört immer sofort, dass das Ostönnen ist.“

Namhafte Musiker beim Ostönner Orgelsommer

Auch in Zukunft wird der weltweit konzertierende Berben auf „seiner Orgel“ in Ostönnen spielen: „Ich hoffe, dass ich das mindestens alle zwei Jahre schaffe, vielleicht sogar jedes Jahr einmal.“ Aber es ist ohnehin nicht Berben allein, der sich immer wieder vor diesem Instrument verneigt und mit seinem kunstvollen Spiel dafür sorgt, dass die Orgel buchstäblich aus der Zeit gefallen scheint.
Beim „Ostönner Orgelsommer“ geben sich inzwischen zahlreiche namhafte Musiker die Kirchenklinke in die Hand und bringen das gotische Kleinod regelmäßig macht- und prachtvoll zum Klingen.
Sehr zur Freude von „Orgel-Pate“ Dr. Reinecke: „In beschaulichen Augenblicken geht mir durch den Sinn, welch besonderes Glück mir zuteil wird, soviel zufriedene Menschen an der Orgel und auch bei deren Konzerten erleben zu dürfen.“