Artikel teilen:

Drei Tage im April

Es ist der 13. April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Kleinstadt Gardelegen im heutigen Sachsen-Anhalt zum Schauplatz eines grausamen NS-Massakers wird: Mehr als 1.000 KZ-Häftlinge auf einem Todesmarsch werden im Feuer ermordet. Nur zwei Tage später befreien US-Soldaten den Ort.

Anfang April vor 80 Jahren sind die Amerikaner bereits Richtung Mitteldeutschland vorgerückt, die Front beginnt sich aufzulösen. Panisch versuchen die Nazis, die in der Region gelegenen Konzentrationslager zu räumen. Sie treiben zwischen 3.000 und 4.000 Häftlinge auf Todesmärsche, die unter anderem aus den Lagern Hannover-Stöcken, Mittelbau-Dora in Thüringen oder aus diversen Nebenlagern stammen. Viele von ihnen sind entkräftet und krank von der Lagerhaft.

Weil die Bahnlinien bereits unterbrochen sind oder Loks nicht mehr funktionieren, müssen die KZ-Häftlinge zu Fuß weiter. Am Abend erreichen über 1.000 Häftlinge die Feldscheune des Gutes Isenschnibbe am Stadtrand des Altmark-Städtchens Gardelegen. Die übrigen Gefangenen sind unterwegs ermordet oder liegengelassen worden, einigen gelang auch die Flucht.

Hier sollen die Gefangenen auf bestialische Weise sterben. Das Stroh in der steinernen Scheune ist mit Benzin getränkt. Die verbliebenen KZ-Wachleute, Männer des örtlichen „Volkssturms“, in der Region stationierte Soldaten und Angehörige des Reichsarbeitsdienstes entzünden das Stroh, wollen die Häftlinge bei lebendigem Leib verbrennen lassen.

Doch den Todgeweihten gelingt es zunächst, die Flammen mit ihren Schuhen oder ihrer Kleidung zu ersticken. Die Täter geben nicht auf, werfen Handgranaten oder setzen Panzerfäuste und Leuchtspurmunition ein. Dem können die KZ-Häftlinge nichts mehr entgegensetzen. Manche graben sich in den Erdboden ein, andere stellen sich tot oder kriechen unter Leichenberge. Aber nur sieben von 1.016 Menschen überleben das Massaker. Die Toten kommen nicht nur aus Deutschland, viele stammen aus Polen, andere aus Frankreich, Belgien oder Algerien.

Am 14. April versuchen die Nazis, das Verbrechen eilig zu vertuschen und die Leichen in Massengräbern regelrecht zu verscharren. Doch bereits einen Tag später rücken US-Truppen in Gardelegen ein. Gut drei Wochen vor der Kapitulation der Wehrmacht ist in der Altmark der Krieg zu Ende.

Als die Amerikaner die Scheune Isenschnibbe entdecken, handeln sie sofort. Die Leichen werden wieder ausgegraben und unmittelbar neben der Scheune auf einem eigens angelegten Friedhof so würdevoll wie möglich bestattet. Aus der örtlichen Bevölkerung werden Menschen gezwungen, sich die Leichen anzuschauen. Sie werden verpflichtet, dauerhaft für die Pflege der Gräber zu sorgen. Grabschändern werden hohe Strafen angedroht.

Die Besatzung der Amerikaner währt nur kurz. Erst übernehmen die Briten, dann rückt die Rote Armee in Sachsen-Anhalt ein. 1949 wird es Teil der DDR, die das Gedenken an die Ermordeten politisch instrumentalisiert. „Die Opfer wurden zu Antifaschisten, gar zu Kommunisten stilisiert“, sagt Stefan Winzer. Der Historiker leitet die Gedenkstätte, die zur Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt gehört.

Gleich nach der Staatsgründung der DDR 1949 entsteht ein erster Gedenkort. Vom Originalschauplatz ist wenig übrig. Die Einwohner von Gardelegen bedienten sich an den Steinen der Scheune, von der nur noch eine Wand übrig blieb. Mit Klinkersteinen ist der Grundriss des Gebäudes gekennzeichnet worden. Doch Stefan Winzer bezweifelt, ob die Wand und die Ausmaße wirklich original sind.

„Besucher fragen oft, warum hier nichts mehr steht“, erzählt der Gedenkstättenleiter: „Aber der Ort ist ja nicht leer, die Geschichte ist greifbar.“ Vor allem die 1.023 Holzkreuze auf dem Friedhof erzählen von dem Massaker, das als eines der größten rund um die Zeit des Kriegsendes gilt. Einige wenige der Opfer wurden in der Nähe des Ortes in Straßengräben oder am Wegesrand tot aufgefunden. Auf vielen Kreuzen steht „unbekannt“, auf anderen die KZ-Häftlingsnummer. Manche Kreuze enthalten in der Mitte einen Judenstern.

Vor fünf Jahren wurde der Ort nach langen Diskussionen nochmals vergrößert. Ein neues Gebäude zeigt eine Dauerausstellung zum Massaker, in der unter anderem die erste Gedenktafel der US-Amerikaner zu sehen ist. Zu DDR-Zeiten wurde sie entfernt und nach der Wiedervereinigung in einer Schuppenwand am Friedhof wiederentdeckt.

Vor allem Schulklassen kommen hierher, aber auch Nachfahren der Opfer oder andere Besucher. Politisch motivierte Schändungen oder Störungen gibt es laut Winzer nur selten.

Von den Tätern wurden nur wenige bestraft. Wie Diana Gring, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, schreibt, blieb der damalige NSDAP-Kreisleiter Gerhard Thiele, geboren 1909, zeitlebens unentdeckt. Er lebte unter falschem Namen in der Bundesrepublik. Seine wahre Identität konnte erst nach seinem Tod im Jahr 1994 festgestellt werden.

Erhard Brauny, geboren 1913, war zuletzt Leiter des KZ-Außenlagers Rottleberode, das im April 1945 geräumt wurde. Brauny leitete den Transport von etwa 400 Häftlingen, die zu den Opfern von Gardelegen gehörten. In den Dachauer Prozessen wurde er laut Gring im Jahr 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt. Er starb bereits 1950.