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Drama “Ein ganzes Leben” ist vollgepackt mit Schicksalsschlägen

Vom Schicksal gebeutelt, dennoch optimistisch – Im Film “Ein ganzes Leben” sind es kleine Momente der Schönheit, die dem Protagonisten sein Leid erträglich machen. Am Ende der Passionsgeschichte steht keine Himmelfahrt.

Kaum fällt die Tür des Bauernhofs ins Schloss, beginnt für das Waisenkind Andreas Egger das Martyrium. Schon die Kutschenfahrt durch die imposanten Berge Südtirols zieht sich lange hin. Was den Jungen aber Anfang des 20. Jahrhunderts nach seiner Ankunft beim Bauern Kranzstocker erwartet, ist ein nie endendes Leiden. Von seinem neuen “Beschützer” wird er als kostenlose Arbeitskraft ausgebeutet. Und als würde das nicht schon reichen, verprügelt ihn der ständig Gott und die Bibel zitierende Kranzstocker grundlos. Als Egger endlich erwachsen ist, löst er sich von den Ketten seines Peinigers, nimmt Gelegenheitsarbeiten an und mietet mit dem Ersparten eine Hütte hoch oben auf einem Berg. Der Auftakt zu einer schier endlosen Passiosgeschichte.

Die Vorlage für den Kinofilm “Ein ganzes Leben” von Hans Steinbichler ist der gleichnamige Roman von Robert Seethaler, der im Jahr 2014 erschienen ist. Die Hauptfigur erinnert entfernt an Voltaires optimistisch gestimmten Märchenhelden Candide, der auf seiner Reise quer durch Europa eine Kette zufälliger Unglücke, Katastrophen und unwahrscheinlicher Rettungen erlebt, dabei nie den Lebensmut verliert und erst nach der Begegnung mit einem Pessimisten an der Menschheit zu zweifeln beginnt. Egger erreicht dieses Stadium nie, auch wenn er kurz vor seinem Tod sein Leben in einer rasant geschnitten Bildersequenz weinend an sich vorbeiziehen lässt.

Als sich ihm eine feste, wenn auch lebensgefährliche Arbeit bei einer Seilbahnfirma bietet nutzt er die Chance sofort. Gestärkt durch sein Auskommen wirbt er um Marie, die in der Dorfgastwirtschaft arbeitet. Die beiden erkennen ineinander eine Seelenverwandtschaft, streifen verträumt durch Wiesen und Täler und tauschen instinktiv ihre intimsten Gedanken aus. Nach der Heirat ist Marie schwanger und es scheint, als könnte Egger einem glücklicheren Lebensabschnitt entgegengehen.

Doch dann zerstört eine Lawine alle Pläne. Marie stirbt und nur Egger überlebt knapp und muss erst die vielen Brüche auskurieren, bis er wieder mit der Wartung der Seilbahn beauftragt wird. Der von Gewissensbissen geplagte Direktor gibt ihm leichtere Arbeit, weil es wohl Sprengungen der Firma waren, welche die Lawine verursacht hatten.

Erst schlägt die Natur zurück, dann hört man Hitlers überschlagende Stimme in der Dorfschenke nach dem totalen Krieg schreien. Egger wird für kampftauglich erklärt, “um den Kaukasus zu befreien”. Seine Aufgabe besteht darin, ganz allein in der eisigen Kälte Sprenglöcher anzulegen, um im Fall des Abzugs “alles in die Luft zu jagen”. Auch diese Zumutung übersteht er duldsam. Er kehrt aus russischer Gefangenschaft zurück und setzt in seinem Dorf dort an, wo er aufgehört hatte: bei harter Arbeit und Briefen an Marie, die er in einen Schlitz in ihrem Sarg wirft.

Steinbichlers Film zeigt verhärtete Menschen, abweisend, wortkarg und kalt, in einer atemberaubenden Landschaft, die sich selbst genug ist und jene hart bestraft, die Hand an sie legen. Erst der Tourismus verspricht nach dem Krieg mehr Leichtigkeit, zumindest für diejenigen, die aus ihm Gewinn zu schlagen wissen. Egger gehört nicht dazu. Er kann dem Wandel nichts abgewinnen. Einer sich anbahnenden Beziehung mit einer Lehrerin geht er aus dem Weg und hängt lieber der Vergangenheit mit Marie nach; ein Eigenbrötler mit großem Herz und Sinn für die Heilkraft der Zurückgezogenheit.

Doch ist das Alleinsein für ihn keine Strafe, sondern eine Gelegenheit, metaphysische Klarheit zu erlangen. Unter den drei hervorragenden Darstellern, die ihn im Lauf der Zeit verkörpern, formt Stefan Gorski im mittleren Alter die Figur am stärksten mit seiner wuchtigen Körperpräsenz und der mitreißend emotionalen Spielweise. Bei der durchgehend hohen schauspielerischen Qualität des Films bedürfte es gar nicht der melancholisch-sentimentalen Musik, die mehr irritiert als dass sie die Handlung voranbringt

Am Ende entlässt Steinbichler seine schlafwandlerische Hauptfigur zufrieden in das “kalte Nichts”, das ihr einst ein weiser Greis als den Tod vorgestellt hatte. Der Greis selbst kehrt am Filmende als von Touristen bestaunte Eis-Mumie nach vierzig Jahren ins Dorf zurück.