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Dokumentiert: Aus dem Vorwort der Ostdenkschrift

„Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die als kirchliche Gemeinschaft in das politische Spannungsfeld zwischen Ost und West gestellt ist, beobachtet mit wachsender Sorge, daß die Wunden, die der Zweite Weltkrieg im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn geschlagen hat, bis heute, 20 Jahre nach seinem Ende, noch kaum angefangen haben zu verheilen. Ein wesentlicher Grund dafür ist auf deutscher Seite, daß die Besetzung der deutschen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie durch Sowjetrußland und Polen und die Vertreibung von Millionen deutscher Menschen aus diesen Gebieten und aus den alten deutschen Siedlungsgebieten in der Tschechoslowakei sowie im übrigen Osten und Südosten Europas Probleme aufgeworfen haben, die bisher nicht zureichend gelöst worden sind. Die öffentliche Erörterung dieser Probleme nimmt in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West) einen breiten Raum ein; der von den Sprechern der Vertriebenen immer neu erhobene, von der Bundesregierung mehrfach in öffentlichen Erklärungen bestätigte Anspruch auf Wiederherstellung des früheren Rechtszustandes mit friedlichen Mitteln bildet hier einen gewichtigen Faktor der Innen- und Außenpolitik.
Die Kirche ist von dieser Unruhe und Ungewißheit unter den Vertriebenen stark mitbetroffen. Auch in ihren Reihen wird lebhaft, oft mit Erbitterung, in Diskussionen und Erklärungen kirchlicher Gruppen über die theologischen und ethischen Fragen des Vertreibungsproblems und die daraus zu ziehenden politischen Folgerungen gestritten. Sie hält es daher um ihrer Verantwortung für diese Menschen willen, aber auch im Blick auf den ihr an ihrem Ort aufgetragenen Dienst für den Frieden zwischen den Völkern für ihre Pflicht, diesen Problemen und den Wegen zu ihrer Lösung nachzugehen. Sie kann und will sich damit nicht an die Stelle der zum politischen Handeln Berufenen setzen, aber sie kann hoffen, einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion und zur Urteilsbildung zu leisten, einige der bestehenden Spannungen zu beseitigen und damit die Wege zum politischen Handeln zu ebnen.“