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Doku-Serie zum Vietnam-Krieg lädt zum Binge-Watchen ein

Filme über den Vietnam-Krieg gab es schon viele. Die so komplexe wie dichte Arte-Dokuserie “Vietnam. Geburt einer Nation” ist spannender. Das verdankt sie so vielfältigen wie verstörenden Berichten von Zeitzeugen.

Hinterher ist man immer klüger, zumindest im Rückblick lässt sich alles erklären. Diesen Eindruck vermitteln Geschichts-Dokus oft. Und meist gelten sie ja auch gründlich erforschten Themen, über die weitgehend Konsens herrscht. Ganz anders die vierteilige Dokumentation “Vietnam. Geburt einer Nation”, die Arte zum 50. Jahrestag des Endes des Vietnam-Kriegs ausstrahlt. Die Handlungsstränge laden wegen ihrer Komplexität – und weil Fragen offen bleiben – geradezu zum Binge-Watchen ein.

Sowohl die Wendungen, die die Entwicklung von der französischen Kolonialzeit bis zum Untergang Südvietnams 1975 nahm, als auch die gut ausgewählten Zeitzeugen machen neugierig. Sie berichten mit fernöstlicher Gelassenheit, die mal fasziniert und mitunter eher verstört, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven über die Ereignisse.

Dabei schöpfen die Autoren aus bemerkenswert abwechslungsreichem Bildmaterial: Von leicht verwaschenen pastellbunten Bewegtbildern über vordergründig friedliche Idyllen und Bilder vom Glamour Saigons bis hin zu Bombenabwürfen und Feuer. Da gibt es Schwarz-Weiß-Material von spektakulären Kampfszenen mit offenen Lastwagen voller Kämpfer und von Landschaften, in denen mit Pflanzen auf Helmen getarnte Soldaten kaum auffielen. Aber auch Ausschnitte aus propagandistischen DDR-“Dokus” und französischen Wochenschauen, die “das treue, vom kolonisatorischen Genie geprägte Land” preisen, komplettieren den Fundus. Vor allem die dritte Folge zeigt heftige Bilder von Folter und körperlicher Gewalt. Über deren Herkunft hätte man gerne etwas mehr erfahren.

Zum Einstieg anno 1945 gehört Vietnam noch zur französischen Kolonie Indochina. Beziehungsweise wurde es, wie die Wochenschau posaunend berichtet, wiedererobert, nachdem die Japaner als Verbündete Deutschlands es im Zweiten Weltkrieg besetzt und es bereits erste US-amerikanische Flugzeuge bombardiert hatten. Schon damals forderte eine Hungersnot mehr als eine Million Opfer. Die Franzosen hätten das Land durchaus modernisiert, indem sie etwa Eisenbahnen und Telegrafenleitungen bauten, sagt eine Historikerin. Sie beuteten es aber auch aus, etwa seinen Kautschuk für Autoreifen. Und im Geschichtsunterricht lernten junge Vietnamesen, “dass unsere Vorfahren die Gallier waren” – was dann später den Freiheitskampf anstachelte.

Nachdem die Vietminh, deren kommunistischer Führer Ho Chi Minh schon 1945 eine kurzlebige Demokratische Republik ausgerufen hatte, den Franzosen 1954 in der Schlacht von Dien Bien Phu ein “Mini-Verdun” bereitet hatten, kapitulierte die Kolonialmacht. Dass Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg nur Freiwillige und Soldaten aus anderen seiner einst zahlreichen Kolonien entsandt hatte, die dann teils in Vietnam blieben, dass es zum Machterhalt zeitweilig einen lokalen “Kaiser” installiert hatte, zählt zu wenig bekannten Details, die das Mosaik im Rückblick schillern lassen.

Bei Friedensverhandlungen in Genf wurde eine Teilung des Landes verfügt – zwischen Kommunisten im Norden, deren Umverteilung des Landbesitzes viel Gewalt im vermeintlichen Frieden nach sich zog, und dem Süden, der zunehmend der Unterstützung durch die US-Amerikaner bedurfte. John F. Kennedy “wird noch immer verehrt, hat aber eigentlich alles schlimmer gemacht”, sagt der US-amerikanische Historiker Keith Taylor. Taylor war Vietnam-Veteran – anders als Donald Trump, womit sich der Film einen Schlenker in die Gegenwart erlaubt. Ob sich die US-Soldaten bei aller Waffenstärke einfach “nachts zu laut” verhielten, wie ein südvietnamesischer Veteran sagt, ob das Narrativ, Südvietnams Regime sei korrupt, von US-Militärs aufgebracht wurde, um von selbstverschuldeten Niederlagen abzulenken – das wird offenkundig unterschiedlich erzählt. Auch solche Facetten halten die Spannung der Doku-Serie hoch.

Recht gerafft verlängert die abschließende Folge die Zeit von 1968, dem für die US-Army blutigsten Jahr, bis in die Gegenwart. Die Zeit, in der das wiedervereinigte Vietnam zu einem der ärmsten Länder der Welt absank, ist überwunden. Mit der Aufhebung des US-amerikanischen Handelsembargos und dem “Einstieg in die Weltwirtschaft” hielt in den 1990ern relativer Reichtum Einzug. Zugleich schwand das Bewusstsein für die so wendungsreiche wie blutige Geschichte wie auch das Interesse daran. Auch solche Bitternis mag in den Aussagen der Zeitzeugen anklingen, die teils im weiterhin kommunistischen Ein-Parteien-Staat leben (der, wie im Film nicht vorkommt, in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen stets tief unten rangiert) und dort nur “die Version der Sieger” hören, teils im kalifornischen Little Saigon, in dem oft die alte südvietnamesische Flagge gehisst wird.

Perspektivisch stringent ist all das aus weitgehend vietnamesischer Sicht erzählt. Erst im Verlauf des global immer wirkmächtigeren Kriegs fächert sie sich leicht auf, zumeist aber über Emigranten. Die bekannten Vietnam-Proteste in den USA, Paris und Berlin, deren Bilder in vielen Geschichts-Dokus gern zu populärer zeitgenössischer Musik eingesetzt werden, spielen praktisch keine Rolle. Auch das trägt dazu bei, dass “Vietnam. Geburt einer Nation” zu bemerkenswert dichtem, durch seine Komplexität faszinierendem Geschichtsfernsehen wird.