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“Dieser Schritt fällt mir nicht leicht”

Knapp acht Minuten dauert die persönliche Erklärung, mit der Annette Kurschus von ihren Spitzenämtern als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und westfälische Präses zurücktritt. Im Großen Saal des Bielefelder Landeskirchenamts herrscht an diesem Morgen Ausnahmezustand: Kamerateams, Fotografen und schreibende Journalisten warten auf die angekündigte Erklärung. Fast 500 Menschen verfolgen das Statement der 60-jährigen Theologin per Video.

Dann betritt Kurschus, aus der November-Kälte kommend, durch eine Seitentür den Saal. Sie wirkt blass und angestrengt, als sie an das Rednerpult tritt. Nach ihrer abgelesenen Erklärung verlässt sie den Saal umgehend auf dem gleichen Weg, Fragen sind nicht vorgesehen.

„Dieser Schritt fällt mir nicht leicht“, sagt Kurschus. Ihre Stimme stockt an manchen Stellen. Das öffentliche Vertrauen in ihre Amtsführung habe Schaden genommen und sie könne ihren Dienst nicht wirksam tun, wenn ihre Aufrichtigkeit angezweifelt werde. Sie trägt ein schwarzes Kostüm mit roten Rändern – offenbar das gleiche, in dem sie vor zwei Jahren strahlend die Wahl zur Ratsvorsitzenden der EKD annahm.

In den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gehöre nicht ihre Person, sondern gehörten die von Missbrauch betroffenen Menschen, sagt die reformierte Theologin bestimmt. In der Sache, mit Gott und mit sich selbst sei sie im Reinen, erklärt sie im Blick auf Missbrauchsvorwürfe gegen einen Mann in ihrem früheren persönlichen Umfeld, als sie noch Pfarrerin und Superintendentin im Kirchenkreis Siegen war.

Sie habe damals „allein Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten“ wahrgenommen, sagt Kurschus und bekräftigt damit, dass sie erst seit diesem Jahr von dem Missbrauchsverdacht wisse. Sie sagt aber auch: „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, so geschult und so sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden“.

Dass die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit öffentlich eine solche Eigendynamik entfaltet habe, nennt Kurschus „eine absurde und schädliche Verschiebung“: Statt um die Betroffenen und deren Schutz gehe es seit Tagen ausschließlich um ihre Person. „Das muss endlich aufhören.“

Der Missbrauchsverdächtige ist ein ehemaliger Kirchenmitarbeiter, mit dessen Familie die Theologin lange befreundet war. Der heutige Rentner soll im früheren Kirchenkreis Siegen über Jahre hinweg junge Männer sexuell bedrängt haben. In Siegen war Kurschus ab 1993 als Gemeindepfarrerin und später als Superintendentin tätig. Sie habe aber nie in einem Dienstverhältnis zu dem Mann gestanden.

Ihre erklärte Absicht sei es gewesen, Menschen mit Erfahrungen von sexualisierter Gewalt „uneingeschränkte Aufklärung und Aufarbeitung dieses Unrechts zuzusichern“, sagt Kurschus vor der Medienöffentlichkeit. Dafür werde sie auch weiter einstehen, kündigt sie an. „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen, und so gehe ich sehr traurig, aber ich gehe getrost und aufrecht.“ Am Ende der Erklärung klatschen die Gäste im Saal Beifall.

Nachdem sich Kurschus direkt wieder zum Seitenausgang begeben hat, herrscht betretene Stille. Einige Gäste, Vertreter der Landeskirche und Kirchenkreise, versammeln sich vor der Eingangstür. Manche haben Tränen in den Augen, einige nehmen sich in den Arm.

Vieles bleibt an diesem Tag offen. Im Blick auf die Landessynode der westfälischen Kirche Ende dieser Woche wird lediglich bestätigt, dass sie auch ohne Präses wie geplant stattfindet. Auf der Tagesordnung stehen Finanzthemen und Klimaschutz.