Marie Zachger hält eine kleines Gefäß in eine Handykamera. Es war wohl eine Salbendose der Krankenstation des Konzentrationslagers Neuengamme. Eine Krankenstation im KZ? Nicht mit heutiger medizinischer Versorgung zu vergleichen, erklärt Marie. Meistens sei die Station überfüllt gewesen und für die Kranken bestand die Gefahr, getötet zu werden, weil die SS sie nicht mehr für arbeitsfähig hielt. Oder die SS-Ärzte nutzen kranke Gefangene für entsetzliche Experimente.
Gedenkstätte war mit TikTok-Auftritt weltweit Vorreiterin
42 Sekunden dauert das Video, mit dem Zachger über den Holocaust informiert. Für einen Clip im Sozialen Netzwerk TikTok ist das eher lang. Marie arbeitet in der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme als Presenterin, sie bespielt den TikTok-Kanal der Gedenkstätte. Seit zwei Jahren gibt es den Kanal neuengamme.memorial. Die Gedenkstätte war damit weltweit Vorreiterin. “Für uns war die Frage, wo wir die Generation erreichen können, die sonst nur im Klassenverband zu uns kommt”, erklärt Iris Groschek, “und wie wir mit ihnen im Dialog bleiben können”. Groschek verantwortet die Social-Media-Angebote der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, zu der auch das ehemalige KZ Neuengamme gehört.
Groschek verzeichnet ein großes Interesse an der Zeit des Nationalsozialismus und dem Holocaust in der jungen Generation. Kritik, dass solche Themen nicht in die Sozialen Netzwerke gehören, widerspricht sie: “Ich finde es schade, wenn die alte Generation der jungen sagt, wie sie zu gedenken hat. Erinnerungskultur lebt ja von einem partizipativen Moment. Das heißt, die jungen Leute sollen die zukünftige Erinnerungskultur gestalten.” TikTok eigne sich dafür. Die Plattform biete viele interaktive Möglichkeiten, beispielsweise auf Videos zu reagieren und in einen Dialog zu kommen.
TikTok ist mehr als Tanzvideos
Die Gedenkstätte nutze TikTok außerdem nicht nur als Form des Gedenkens der Opfer, sondern vor allem pädagogisch. TikTok sei schon lange nicht mehr wie dessen Klischee, voll Tanzvideos und witzigen Challenges. “Es ist ein Ort, an dem politisch kommuniziert wird”, sagt Groschek und verweist auf die hohen AfD-Wahlergebnisse unter jungen Wählerinnen und Wählern bei den vergangenen beiden Landtagswahlen. AfD-Politiker seien auf TikTok am aktivsten.
Auch für rechtsextreme Propaganda sind Online-Plattformen inzwischen die wichtigsten Kanäle. Kinder und Jugendliche bieten eine leichte Zielgruppe, weil sie sehr viel Zeit im digitalen Raum verbringen. Laut einer Statistik aus dem Jahr 2021 nutzt gut ein Viertel aller Kinder von 10 und 11 Jahren TikTok, bei den 12- bis 13 Jährigen ist es über die Hälfte. Zwar ist die Plattform immer wieder wegen undurchsichtiger Algorithmen und möglicher politischer Einflussnahme in der Kritik. Aber: “Wir können nicht sagen, die Plattform passt nicht zu uns – dann verlieren wir die Jugend”, sagt Groschek.
Optisch und in den Erzählformen passt sich der Neuengammer Kanal den Eigenheiten von TikTok an. Es gilt: Je kürzer, desto besser. “Wir dürfen dabei aber die Geschichte nicht unangemessen verkürzen”, sagt Groschek. Die ersten 0,5 Sekunden des Videos müssen überzeugen, Nutzerinnen und Nutzer scrollen sonst weiter zum nächsten Video. “Wir mussten sozusagen eine neuen Form der Geschichtserzählung lernen – zum Beispiel muss die Kernfrage des Clips ganz an den Anfang”. Zwei bis drei Videos lädt die Gedenkstätte wöchentlich hoch. Durch die Fülle an Videos versuchen die Verantwortlichen in Neuengamme, einen guten Überblick zu geben. Manche Videos vermitteln vor allem Fakten, andere geben persönliche Einblicke in die Arbeit vor Ort.
Neuengamme wehrt sich gegen rechte Kommentare
Marie Zachger und Iris Groschek wollen, dass ihr Kanal glaubwürdig und authentisch ist und ernst genommen wird. “Unser Kanal soll keinen Platz für Antisemitismus und Rassismus bieten”. Mithilfe von Wortfiltern würden Kommentare mit problematischen Ausdrücken automatisch gesperrt. Außerdem checken die Mitarbeitenden regelmäßig die Kommentarspalten – gerade rechte Inhalte verstecken sich oft in szenebekannten Codes. Bei Problemen hat das Team aus Neuengamme einen direkten Ansprechpartner bei TikTok. Marie Zachger lobt die Community, die oft auch selbst problematische Kommentare kontere.
28.000 Menschen folgen neuengamme.memorial. Das erfolgreichste Video “3 Dinge, die du in einem ehemaligen KZ niemals machen solltest”, entstand als Kooperation mit der Deutschen Welle und hat über eine Million Likes. Viele Leute hätten auf das Video reagiert und mit eigenen Videos geantwortet, sagt Iris Groschek.
Immer wieder stoßen Zachger und Groschek bei anderen Menschen auf Unsicherheit, wenn es ums Erinnern geht. “Sie wissen irgendwie, dass das Ganze ein wichtiges Thema ist. Aber gerade diese spürbare Bedeutsamkeit kann zu Unwohlsein mit dem Thema führen oder gar Ablehnung”, so Groschek. Im Digitalen könne die Gedenkstätte eine nahbare Institution sein.
Schwieriger Content auf Augenhöhe
Bewusst sprechen in den Videos daher nur junge Menschen wie die 26-jährige Marie Zachger auf Augenhöhe mit den Usern. Groschek sieht darin das Erfolgsgeheimnis des Kanals: “Unsere Hosts erzählen ihre persönlichen Geschichten, also das, was sie interessiert und selbst recherchieren, sowie das, was sie hier vor Ort erleben”. Manche Themen kämen auch durch Ideen oder Fragen der Userinnen und User auf, ergänzt Marie.
Beliebt seien beispielsweise Clips, die Teile des Geländes der Gedenkstätte vorstellten oder die die Nutzer überraschten – zum Beispiel, dass es auch queere Opfer des Nationalsozialismus gab. Die Gedenkstätte hat ihre Followerzahlen im Blick, Reichweite ist aber trotzdem nicht alles. “Wir haben auch schwierigen Content, der aber wichtig ist – der Kanal ist kein Unterhaltungsaccount”, sagt Groschek.
Ein wichtiger Teil der digitalen Arbeit in Neuengamme sind auch Inhalte, die Grundlagen zur Schoah vermitteln. Denn: Viele Follower sind nicht aus Deutschland, sondern aus dem Ausland mit wenig Wissen über die NS-Zeit. Neuengamme.memorial ist daher englischsprachig. “Wir wollen eine internationale Zielgruppe ansprechen, außerdem verstehen die deutschen Menschen bei TikTok genauso Englisch”, sagt Zachger. Gerade dieser internationale Austausch sei spannend. Neben ihr wird der Kanal auch von einer Freiwilligendienstleistenden aus den USA betreut.