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Die Kirche für Vertriebene

Viele Menschen flüchteten nach dem Zweiten Weltkrieg in die Kommune Raisdorf bei Kiel und prägten sie. Jetzt erzählt eine Ausstellung die Geschichte des Flüchtlingslagers Karkkamp.

Rudi Hahn, Helmut Ohl und Pastor Fredt Winkelmann (v.l.) präsentieren die Altarbibel des früheren Flüchtlingslagers Karkkamp
Rudi Hahn, Helmut Ohl und Pastor Fredt Winkelmann (v.l.) präsentieren die Altarbibel des früheren Flüchtlingslagers KarkkampSalomo Steiger

Raisdorf. Karkkamp ist plattdeutsch und heißt Kirchenland. Diesen Namen trug ein Flüchtlingslager in Raisdorf bei Kiel, das wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten des Reichs in den Westen flüchteten, gegenüber der heutigen Kirche entstand. Ohne die Vertriebenen wäre Raisdorf nicht das, was es heute ist: Nicht nur die Einwohnerzahl stieg nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich, der 700 Jahre alte Ort bekam auch erstmals eine eigene Kirchengemeinde mit Kirchengebäude.
Hervorgegangen ist die noch junge kirchliche Tradition in Raisdorf aus dem Flüchtlingslager. 1949 wurde eine der Baracken zur Kapelle umfunktioniert und ein Jahr später mit einem Glockenturm versehen. Der Flüchtlingspastor Rudolf Fitzner war damals maßgeblich am Bau des Glockenturms beteiligt und taufte die Barackenkapelle auf den Namen St.-Martin, den die 1960 erbaute Kirche bis heute trägt: „Damit wollte der Pastor ein Signal setzen, dass die Leute im Lager miteinander teilen sollen“, sagt Helmut Ohl, Ehrenvorsitzender des Heimatbundes Schwentinetal.

Einer der letzten Zeitzeugen

Derzeit wird im hinteren Teil des Kirchenschiffs eine „Erinnerungsstätte errichtet, die unsere Wurzeln zeigen soll“, sagt Pastor Fredt Winkelmann und ergänzt: „Wir wollen das so gestalten, als wenn man vor der Barackenwand stünde.“ Davor soll das große Kreuz, das in der Kapelle stand, platziert werden sowie eine Vitrine mit Altarleuchter und einer Bibel, die etwa 1875 in den USA gedruckt wurde. Letztere war lange Zeit verschollen; eher zufällig wurde sie 2014 beim Auräumen des alten Pastorats gefunden.
Rudi Hahn ist einer der letzten Zeitzeugen, die mit diesen Gegenständen an ihrem Ursprungsort in Berührung kamen und noch heute in der Region um Schwentinetal wohnen. Als Kleinkind ist er mit Mutter und Bruder aus Westßpreußen geflohen und kam zuerst auf der Insel Neuwerk unter. Als sein Vater aus der britischen Kriegsgefangenschaft entlassen und der Kommune Raisdorf zugewiesen wurde, zog der Rest der Familie dorthin nach: „Die Zustände waren für uns Flüchtlinge gut. Wir wohnten zu viert in einem 20-Quadratmeter-großen Zimmer“, erzählt Hahn über das Leben im Lager. 1952 bekam seine Familie ein Haus in der Umgebung zugewiesen.

Ablehnung gegenüber Flüchtlingen

Hahn aber kehrte immer wieder zurück, um am Wochenende die Glocke der Kapelle zu läuten – einmal sonnabends und drei Mal sonntags. Im Laufe der Jahre wurden immer mehr Bewohner auf andere Lager verteilt oder bekamen, wie die Familie von Rudi Hahn, ein Haus zugewiesen. So endete 1960 nicht nur die Existenz der Lagerkapelle, sondern auch die siebenjährige Glöcknertätigkeit von Rudi Hahn.
Wie an vielen Orten in Schleswig-Holstein stießen die Flüchtlinge aus den Ostgebieten auf Ablehnung, weil viele Einheimische ihre Wohnung freiräumen mussten, um Flüchtlinge aufzunehmen: „Deshalb wurde auch der Schleswig-Holstein-Block gegründet, um sich gegen Flüchtlinge zu wehren“, erzählt Helmut Ohl. Für die Raisdorfer seien die Flüchtlinge „die aus den Baracken“ gewesen. Dann kam die Einweihung der neuen Kirche 1960. Sie wurde mit einer feierlichen Prozession von der alten Barackenkapelle zum Neubau begangen. Von diesem Ereignis sei eine gemeinschaftsstiftende Wirkung ausgegangn, betont Pastor Fredt Winkelmann.
Die damalige Einweihung der Kirche und die Geschichte des Flüchtlingslagers Karkkamp soll voraussichtlich am 31. Oktober mit der Eröffnung der neuen Erinnerungsstätte gefeiert werden.