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“Die Kinder merken: Das ist ja meine Welt!”

Markus Löble ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Christophsbad im württembergischen Göppingen. Der Mediziner hat bei einem internationalen wissenschaftlichen Symposium zum 100. Geburtstag von Otfried Preußler an der Berliner Humboldt-Universität über Preußlers Werk aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht referiert. Mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) sprach er über die heilende Wirkung der kleinen Hexe und des starken Wanja – und darüber, was Erwachsene von Preußler über ihre Kinder lernen können.

epd: Herr Löble, welche Erfahrungen machen Kinder, die mit dem kleinen Gespenst und dem starken Wanja aufwachsen?

Markus Löble: Das Besondere an Otfried Preußler ist, dass er sehr ehrlich ist, ohne Hintergedanken. Er versucht nicht, Kinder mit seinen Büchern zu manipulieren oder zu instrumentalisieren. Das kleine Gespenst blickt in der Tag-Welt nicht durch – wie ein Dorfkind, das zum ersten Mal am Busbahnhof in der Stadt steht. Die kleine Hexe müht sich mit ihren Hausaufgaben ab und fragt sich: Wozu mach’ ich das? Das ist die Urfrage aller Schüler, und die Undurchschaubarkeit von Regeln ist das Thema aller Kinder. Preußlers Geschichten haben deshalb ein hohes Identifikationsmoment. Die Kinder merken: Das ist ja meine Welt!

epd: Warum ist das so besonders?

Markus Löble: Weil es im vermieften Nachkriegsdeutschland erstmal nicht darum ging, Regeln und Grenzen zu hinterfragen. Gute Kinderbücher gab es praktisch nicht, viele waren „um-zu“-Literatur, die Kinder zu einem bestimmten Verhalten erziehen wollten. Preußler selbst kam noch in den 1970er-Jahren in die Mühlen der Alt-68er, die seinen märchenhaften Stil ablehnten. Aber gute Kinderbücher sollen Kinder unterhalten und nicht dauernd auf gesellschaftliche Ungleichgewichte hinweisen. Kinder haben ihre eigenen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen; sie können sich nicht auch noch ständig mit den Problemen der Erwachsenen herumschlagen.

epd: Viele Kinderbücher werden von Eltern vorgelesen. Was können Erwachsene aus Preußlers Büchern lernen?

Markus Löble: Respekt vor dem eigenen Kopf und Willen der Kinder. Die elterliche Grundfrage heute lautet: Wie weit achte ich den freien Willen des Kindes und was muss halt sein? Zähneputzen zum Beispiel muss sein, aber ob an Weihnachten alle mitmüssen zum Verwandtschaftsbesuch, das sind Aushandlungsprozesse wie bei der kleinen Hexe. Es ist gut, als Vater und Mutter solche Fragen und Verhandlungsprozesse zuzulassen. Otfried Preußlers Bücher sind durchtränkt von der Haltung, Kinder ernst zu nehmen. Er ist ehrlich interessiert an der Lebenswelt von Kindern – und dieses ehrliche Interesse ist der Beginn jeder Beziehung, auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

epd: Sie schreiben in einem Aufsatz, dass die Anfänge der Kinder- und Jugendpsychiatrie viel von guter Kinderliteratur profitiert hätten. Ist der starke Wanja wichtiger als Fachliteratur?

Markus Löble: Fachliteratur und Forschung sind natürlich wichtig, und es gibt mittlerweile sehr viel gute Fachliteratur. Aber nach dem Ersten und auch noch dem Zweiten Weltkrieg, als sich die Fachrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie entwickelte, war das anders. Plötzlich sah man sich konfrontiert mit einer großen Zahl verwaister Kinder und traumatisierter Eltern. Wie sollte man mit denen umgehen? Die Mediziner haben damals viel von den großen Pädagogen wie Pestalozzi oder Janusz Korczak gelernt – und die wiederum hatten ihre Vorbilder in guter Kinderliteratur wie damals Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Das sind – wie Preußlers und Lindgrens Helden – grandiose Figuren, von denen Kinder grundlegende Überlebenstechniken lernen können. Aber auch junge Ärzte können davon profitieren: Wenn ich einem Assistenzarzt sage, er soll versuchen, ein Lukas der Lokomotivführer zu sein, dann schwingt da viel mehr mit, als wenn ich ihm das Manual 37 empfehle.

epd: Würden Sie sagen, dass Otfried Preußlers Bücher heilsam sind?

Markus Löble: Ja, das sind sie – für alle. Preußler schreibt mit einer Haltung von Versöhnung und innerer Größe – das wirkt heilend. Seine Figuren sind Vorbilder, Leitfiguren, an denen man sich orientieren kann. Und das wichtigste therapeutische Mittel ist nun mal das Vorbild. Was Erwachsene oft vergessen: Man kann sich nicht vornehmen, ein Vorbild zu sein – man ist es automatisch, egal was man tut. Jede Generation hat ihre Vorbilder. Heute sehen wir eine Harry-Potter-Generation. Aber die Themen und Werte guter Kinderliteratur bleiben durch die Jahrhunderte gleich: Es geht um Aufrichtigkeit, Freundschaft, Loyalität und ja, auch Tapferkeit.

epd: Wie setzen Sie Kinderbücher in der Therapie ein?

Markus Löble: Wir laden Kinder und Jugendliche ein, sich an literarischen Vorbildern zu orientieren – die Wahl ist dabei frei, jeden spricht etwas anderes an. Der starke Wanja besteht nach Jahren der Verweigerung seine Prüfungen, Pippi Langstrumpf stemmt ein Pferd in die Luft, die kleine Hexe steht ihre Frau. Kinder sehen: Es gibt noch andere wie mich – und die haben es geschafft. Ich bin nicht allein. Diese Hoffnung ist bei vielen seelischen und psychischen Erkrankungen die halbe Miete. Ohne Hoffnung ist alles nichts. Alle brauchen Vorbilder, Trost, Hoffnung – egal ob sie angeblich verrückt oder normal, krank oder gesund sind.