Festgezurrt und auf Paletten gesichert stehen die drei Glocken der Heilig-Geist-Kirche am Bordsteinrand und warten auf die Speditionsfirma. Paistu in Estland ist das Reiseziel. In der dortigen Marienkirche sollen die Glocken der 2022 entwidmeten Heilig-Geist-Kirche eine neue Heimat finden. Mit einem kleinen Hubwagen hievt der Speditionsfahrer Denis Koslowski die Glocken vorsichtig auf den Transportlaster. Immerhin wiegen die Bronzeglocken zwischen 120 und 285 Kilogramm, die größte von ihnen hat einen Durchmesser von knapp einem Meter. Bereits am Tag zuvor hatten Monteure der Glockengießerei Rincker das Geläut aus dem Turm der Kirche in Hannover-Vahrenwald geholt.
Vermittlung über eine Glockenbörse
„Glocken sehen zwar robust aus, müssen aber für einen Transport wie rohe Eier behandelt werden“, sagt Matthias Braun von der Firma Glockenbörse. Die Vermittlung der hannoverschen Glocken ins ferne Estland lag bei seiner Firma. Die Glockenbörse hat sich auf die Nachnutzung von Glocken aus aufgegebenen Kirchen spezialisiert. Die Firmengründer Matthias Braun und Sebastian Wamsiedler sind Glockensachverständige und haben seit 2015 bisher rund 250 Instrumente aus ganz Deutschland weltweit vermittelt. In Hannover waren sie zum Beispiel auch daran beteiligt, dass die Glocken aus der Corvinuskirche in die Klosterkirche Dobbertin in Mecklenburg-Vorpommern kamen. Auch für die Glocken der Lindener Uhlhornkirche fand sich über die Börse eine neue Heimat in einer katholischen Gemeinde bei Landsberg.
Nach der Entwidmung der Heilig-Geist-Kirche habe sich die Kirchengemeinde an ihre Firma gewandt, um mögliche Interessenten für eine Nachnutzung der Glocken zu finden, erzählt Wamsiedler. Sein Kollege Braun, der in Burgdorf wohnt, besichtigte die Glocken und stellte dann ein Angebot auf die Internetseite der Börse.
Eine neue Kirche mit alten Glocken
Weil die erst 1976 gegossenen Glocken jung und gut erhalten waren, bewarben sich mehrere Kirchengemeinden um das Geläut. Am besten passte es dann bei der evangelischen Kirchengemeinde in Paistu, der auch die Schlichtheit der Glocken mit ihrer Inschrift „Glaube, Liebe, Hoffnung“ gut gefiel. Bis sie in der kleinen Gemeinde zum ersten Mal läuten, wird es wohl Sommer werden, denn erst muss noch ein Glockenstuhl gebaut werden.
In Paistu, westlich von Estlands zweitgrößter Stadt Tartu, hing zuvor die Glocke der St.-Marienkirche aus Tartu. Diese war im Zweiten Weltkrieg 1941 ausgebombt und danach als Sporthalle genutzt worden. 2009 erhielt die evangelische Gemeinde die St.-Marienkirche zurück und begann den Wiederaufbau – nun sollte die alte Glocke zurück in den restaurierten Kirchturm. Also brauchte die Gemeinde in Paistu ein neues Geläut, dazu noch Klöppel und einen kleinen elektrischen Antriebsmotor.
Kirche und Gemeindehaus an Knabenchor Hannover verkauft
Der Verkauf der Glocken brachte der Gemeinde in Hannover einen vierstelligen Betrag ein. „Für die Mitglieder der Heilig-Geist-Kirche bedeutet es zwar einen Abschiedsschmerz, aber es ist auch ein Trost, dass die Glocken wieder in einer Kirche läuten werden“, sagt Pastor Marco Müller von der Lister Johannes- und Matthäuskirche. Nach der Kirchenentwidmung waren die Mitglieder der Heilig-Geist-Gemeinde sowohl in die Vahrenwalder Kirche als auch in die Lister Johannes- und Matthäuskirche aufgenommen worden. Die Kirche und das Gemeindehaus wurden an den Knabenchor Hannover verkauft, der die Gebäude für Proben nutzen will.
Superintendentin Bärbel Wallrath-Peter beobachtet die Verladung der Glocken gespannt: „Es ist bewegend, dass die Glocken in einer lebendigen Gemeinde weiter ihre Aufgabe erfüllen werden.“ Vielleicht reist sie zur Inbetriebnahme der Glocken nach Paistu.