Angenommen, Archäologen fänden im Vorderen Orient ein 2000 Jahre altes Kochbuch. Gut erhalten, detailliert ausgeführt und erklärt. Könnte man damit ein originales antikes Essen herbeizaubern?
Kaum – denn die Tücke liegt im Detail: Maße und Zutaten sind nicht mit heutigen zu vergleichen. Ein Ei mag seitdem größer oder kleiner geworden sein, das Getreide eine andere Konsistenz haben, und manche Garmethode ist vielleicht mittlerweise gänzlich unbekannt. Weiß man nicht um diese Schwierigkeiten, dann kann beim Kochen einiges schiefgehen.
Das antike Kochbuch wäre also mit Vorsicht zu genießen. Ähnliches gilt für das Buch der Bücher, die Bibel. Genausowenig wie ein altes Rezept kann sie eins zu eins in unserer Zeit angewandt werden. Wer darin liest, trifft auf bekannte Worte – und taucht doch ein in eine völlig unbekannte Welt. Himmel und Erde, Mann und Frau, Leben und Tod haben andere Bedeutungen – ganz zu schweigen von Begriffen wie Segen, Gesetz, Gnade oder Gerechtigkeit.
Eine Verständnislücke über Jahrtausende
Eine Verständnislücke tut sich auf zwischen den Jahrtausenden. Zwei neuere Bücher versuchen, diese Lücke zu überbrücken und sich der Welt der biblischen Autoren zumindest anzunähern.
Praktisch und lebensnah führt der ehemalige Theologieprofessor und thüringische Landesbischof Christoph Kähler in das Verständnis der Bibel ein. „Ein Buch mit sieben Siegeln?“ heißt seine empfehlenswerte Schrift, in der der Theologe in kurzen Kapiteln eine gut verständliche Übersicht über die Erkenntnisse der Bibelwissenschaften gibt. Besonders hilfreich sind die Beispiele, anhand derer der Autor etwa die Erkenntnisse der historisch-kritischen Forschung durchexerziert.
Um die sehr unterschiedlichen Aussagen der Bibel einordnen zu können, sucht Kähler nach einem Maßstab. Die Frage „Was hätte Jesus getan?“ ist für ihn so ein Kriterium, anhand dessen sich Handlungsanweisungen in biblischen Texten messen lassen. Sie reicht nach Kählers Ansicht jedoch nicht aus, da sie nur Jesu Handeln, nicht jedoch auch seinen Tod und seine Auferstehung umfasst. Diese Dimension findet der Theologe in Luthers Kriterium „was Christum treibet“ wieder – oder, modern formuliert: Die Texte, die deutlich machen, was Gottes Erlösungswerk für den Menschen bedeutet, sind Evangelium im eigentlichen Sinn. Sie kommen zu uns in der Verkündigung durch Menschen, auch heute noch. Das Wort Gottes sei „ein Prozess, in dem einzelne Menschen sich erkennen, wie sie von Gott gemeint sind, wie sie von ihm und seinem Willen abweichen und wie Gott sich ihrer wieder erbarmt“, fasst Kähler zusammen.
Jesus als Mitte und Maßstab
Einen interessanten und hilfreichen Anstoß gibt Kähler für die aktuelle Diskussion um Fundamentalismus sowohl im Islam wie auch im Christentum. In dem Kapitel über den Missbrauch von Bibeltexten zieht der Theologe die Geschichte von der Versuchung Jesu heran und macht an der Diskussion zwischen Jesus und dem Teufel deutlich, wie auf eine „satanische“ Verwendung von Bibelversen reagiert werden kann. Beide, der Teufel und der Heiland, argumentieren mit der Schrift. Aber während der Teufel lebensverachtend zum Sturz von der Tempelmauer aufruft, anwortet Jesus mit einem Vers, mit dem er die Achtung Gottes und des Lebens in den Vordergrund stellt.
Das, so Kähler, ist eine angemessene Reaktion auf den Missbrauch von Bibeltexten: „Gegen den satanischen Gebrauch des Bibelwortes gibt es keine bessere Gegenwehr als das redliche Bemühen um das sinngemäße Verständnis der Bibel.“
Einen mehr theoretischen Zugang zum Bibelverständnis bietet Hans-Joachim Eckstein, Professor für Neues Testament an der evangelisch-theologischen Fakultät in Tübingen, in seinem Buch „Wie will die Bibel verstanden werden?“. Der Theologe fordert, Bibeltexte zunächst als historische Texte wahrzunehmen, gerade auch in ihrer Fremdheit. Als zweiter Schritt stellt sich jedoch die Frage nach ihrer Verbindlichkeit im „Hier und Heute“. Ob ein Text heute noch etwas zu sagen hat, dafür findet Eckstein den Maßstab in der Person des gekreuzigten, auferstandenen und erhöhten Jesus Christus.
Was dieses Kriterium jedoch konkret bedeutet, etwa bei strittigen Fragen im Umgang mit Bibelstellen über Homosexualität oder über Friedensethik, bleibt Eckstein den Leserinnen und Lesern leider schuldig. Seine Abhandlung über das Bibelverständnis spielt sich allein auf einer dogmatischen Ebene ab und ist auch sprachlich für theologische Laien nicht leicht zu lesen.
• Lesetipps: Hans-Joachim Eckstein, Wie will die Bibel verstanden werden? SCM-Verlag, 190 Seiten, 16,95 Euro. Christoph Kähler, Ein Buch mit sieben Siegeln? Die Bibel verstehen und auslegen, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 96 Seiten, 9,90 Euro.