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Deutscher Kommissar als Exportschlager

Der Mörder lockt sein nächstes Opfer in die Wohnung. Dort wartet allerdings schon Stephan Derrick, Oberinspektor der Münchner Kriminalpolizei: Der 1,87 Meter große Schauspieler Horst Tappert, ein stummer Vorwurf vom Scheitel bis zur Sohle, blickt regungslos auf den Täter hinab. Vor 50 Jahren, am 20. Oktober 1974, wurde die erste Folge der ZDF-Krimiserie „Derrick“ mit der einprägsamen Titelmusik von Les Humphries ausgestrahlt, 280 Episoden sollten bis 1998 folgen. „Waldweg“ spielte in einem Münchner Vorort, wo zwei junge Frauen einer Haushaltsschule ermordet wurden.

Die Besetzungsliste beeindruckt noch heute: Neben Wolfgang Kieling, der sich acht Jahre zuvor im Hitchcock-Thriller „Der zerrissene Vorhang“ einen legendären Zweikampf mit Paul Newman geliefert hatte, spielten auch Lina Carstens, Karl Lieffen, Walter Sedlmayr, Herbert Bötticher und Hilde Weissner mit. Vergleichsweise modern war die ungewöhnliche, dem US-Fernsehen entliehene Dramaturgie: Denn wie bei „Columbo“ lernten die Zuschauerinnen und Zuschauer den Täter gleich zu Beginn kennen und sahen Derrick und seinem Assistenten Harry Klein (Fritz Wepper) beim Lösen des Falles zu. Dieses Konzept wurde aber schon bald wieder verworfen.

Die ersten drei Episoden sahen laut ZDF-Angaben im Schnitt knapp 26 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer – das Privatfernsehen startete erst zehn Jahre später. Verblüffend war vor allem das Interesse aus dem Ausland: „Derrick“ wurde in mehr als 100 Ländern ausgestrahlt, darunter in Australien, China und Japan. Besonders beliebt war die Serie offenbar in Italien, angeblich schaute auch Papst Johannes Paul II. gerne fern, wenn Tappert im Trenchcoat den Kampf gegen das Böse ausfocht.

Mit dem Phänomen beschäftigten sich Schriftsteller und Philosophen, darunter auch Umberto Eco („Der Name der Rose“). Der italienische Spezialist für Zeichensysteme (Semiotik) erklärte den Erfolg von „Derrick“ mit einem guten Gefühl, das diese Figur bei Zuschauerinnen und Zuschauern auslöse: „Denn er lässt in jedem von uns die Mittelmäßigkeit wieder aufblühen, die wir glaubten, verdrängt zu haben.“

Die Verbrechen, die Drehbuch-Autor Herbert Reinecker ersann, ereigneten sich häufig in besseren Kreisen. Hinter der bürgerlichen Kulisse blühten nicht nur Mittelmäßigkeit, sondern menschliche Dramen voller Eifersucht, Neid und Gier. Dagegen war Kommissar Derrick ein Ausbund an Verlässlichkeit, das Idealbild eines unbestechlichen deutschen Beamten, dessen Privatleben weitgehend im Dunkeln blieb und keine extremen Ausschläge kannte. Seine Fälle löste Derrick unbewaffnet, vor allem mit Kombinationsgabe und Menschenkenntnis. Mit seinen großen Augen hinter monströsen Brillengestellen und Tapperts immer tiefer hängenden Tränensäcken wirkte er wie ein riesiges, trauriges, über die Böswilligkeiten der Welt verwundertes Insekt.

Aus heutiger Sicht sind die oft gestelzten Dialoge und dramatischen Kamerafahrten in die Gesichter nervöser Tatverdächtiger ziemlich komisch. Und während mittlerweile in Krimiserien gerne im Team und in flachen Hierarchien ermittelt wird, war Derrick noch ein Kommissar der alten Schule und unangefochten der Chef. Kein Wunder, dass man sich gerne über einen Satz wie „Harry, hol schon mal den Wagen“ amüsierte, auch wenn der nie gefallen war. Hätte aber gut sein können.

Zu sehen sind die alten Krimi-Schätzchen heute noch über den YouTube-Kanal „KultKrimi“, was womöglich auch den Google-Konzern freut. Das ZDF hat „Derrick“ gegenwärtig nach eigenen Angaben in über 30 Länder lizenziert und verwertet auch die Rechte im Video-on-Demand-Bereich. Im Programm selbst wird das 50-Jahr-Jubiläum trotz des außergewöhnlichen Erfolgs nicht gefeiert. „Wiederholungen sind nicht geplant. Das ZDF strahlt üblicherweise auch keine Wiederholungen zu Jubiläen, an Todestagen oder zu anderen Anlässen aus“, teilt eine Sprecherin nüchtern mit.

Im Oktober 1998 endete die Fernseh-Karriere des Oberinspektors mit der Episode „Abschiedsgeschenk“ und einer kleinen Abschiedsrede, in der Derrick ans Publikum appellierte, die eigene Zuschauerrolle zu hinterfragen. Offenbar fühlten sich Fernsehkommissare damals noch dazu berufen, Vorbilder sein zu wollen. Damit war es dann aber 15 Jahre später vorbei. 2013 stöberte der Solinger Politikwissenschaftler Jörg Becker eine Karteikarte der Wehrmachtsauskunftstelle (WASt) auf, die belegte, dass der 1923 in Elberfeld geborene Tappert als 19-Jähriger Mitglied der Waffen-SS gewesen war. Ein Detail, das der im Jahr 2008 gestorbene Schauspieler zeitlebens verschwiegen hatte. Wiederholungen wurden seitdem nicht mehr ausgestrahlt.

Auch der 1914 geborene Autor Reinecker („Der Kommissar“, „Das Traumschiff“) hatte eine Nazi-Vergangenheit. Er war Hauptschriftleiter für NS-Jugendzeitschriften, schrieb für den „Völkischen Beobachter“ und das Kampfblatt der Waffen-SS „Das schwarze Korps“. Möglich, dass sich Tappert und Reinecker schon früher über den Weg gelaufen sind, nicht erst 30 Jahre später in einer vergleichsweise heilen ZDF-Krimiwelt.