6.30 Uhr, der Wecker klingelt. Vor Luca (Name geändert) liegt ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag, den er routinemäßig mit Anziehen, Zähne-Putzen und einem ausgiebigen Frühstück beginnt. Wenn er dabei einen unmittelbaren Blick aus seinem Fenster wirft, kann er die bereits beleuchteten Räumlichkeiten seines Arbeitsplatzes entdecken. Denn die Werkstatt, in der Luca die nächsten sieben Stunden arbeiten wird, liegt seinem Zimmer direkt gegenüber.
Der kurze Weg zur Arbeit ist kein Zufall. Eine klare Strukturierung des Alltags und eine Verminderung von Reizen jeglicher Art sind für Luca enorm wichtig. Der junge Erwachsene leidet unter der sogenannten Autismus-Spektrum-Störung. Eine laute Straße zu überqueren oder mit einem überfüllten Bus zu fahren, kann ihn schon überfordern. Luca ist einer von 24 Autisten, die im Wohnheim des Dietrich-Bonhoeffer-Zentrums in Herten leben. Es wurde vor drei Jahren gegründet, um Menschen mit Autismus ein Umfeld zu schaffen, in dem sie ihren Alltag so gut und selbstständig wie möglich bewältigen.
Schon ein neues Bild hätte schwerwiegende Folgen
Schätzungsweise ein Prozent der Weltbevölkerung ist von der Autismus-Spektrum-Störung betroffen. Ein Lächeln erkennen, eine Berührung genießen, eine beiläufige Geste verstehen – diese alltäglichen Dinge sind für sie oft schwierig. Auch haben sie große Probleme, sich anderen mitzuteilen und an Gruppen anzupassen. Starke Verhaltensauffälligkeiten und eine oft überdurchschnittlich ausgeprägte Sinnes- und Reizwahrnehmung erschweren zusätzlich ihren Alltag.
Nur ein sehr kleiner Teil leidet unter dem „Asperger-Syndrom“ und ist in der Lage, alleine oder mit geringer Unterstützung zu wohnen und zu arbeiten. Der Großteil benötigt ständige Assistenz und lebt, wenn die Familie die Betreuung nicht mehr leisten kann, in Wohngruppen und arbeitet in Werkstätten. Dort aber ist es oft laut und hektisch, was viele Autisten überfordert. Daher gründete die Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen 2015 das Dietrich-Bonhoeffer-Zentrum in Herten. Es ist eine Besonderheit, dass Menschen mit Autismus hier auf einem Gelände leben und arbeiten.
„Der Pflegeaufwand ist bei Personen mit einer Autismus-Spektrum- Störung nicht sehr hoch“, erklärt Judith Schmetzer, Leiterin des Zentrums. „Vielmehr sind es die Verhaltensauffälligkeiten, auf die geachtet werden muss.“ Die Diplom-Heilpädagogin betreut mit weiteren 42 Heilerziehungspflegern und Sonderpädagogen hier vor allem Menschen mit frühkindlichem Autismus, einer besonders schweren Entwicklungsstörung.
Viele der durchschnittlich 25 Jahre alten Bewohner bringen Verhaltensauffälligkeiten mit. Viele ziehen sich ganz von ihrer Umwelt zurück oder verletzen sich selbst. Vermindern lassen sie sich nur mit einer klaren Tagesstruktur und genauen Verhaltensanweisungen. Diese finden sich im Wohnheim fast überall in Form von Tafeln, Zeitplänen oder Bildkärtchen wieder. Wann muss ich meine Socken, meine Hose wechseln? Wie oft muss ich mein Bett frisch beziehen? Individuell abgestimmte Tages- und Wochenpläne der Bewohner direkt vor ihren Zimmertüren geben ihnen Antworten.
Wer Probleme mit dem Sprechen hat, was bei vielen Bewohnern der Fall ist, plant seine Aktivitäten und Aufgaben mit Hilfe von Fotos oder Piktogrammen. Auch anstehende Wochenendausflüge, wie das gemeinsame Therapeutische Schwimmen oder der Besuch der Eltern, können die Bewohner auf ihre Tafeln schreiben. Neben der allgegenwärtigen Strukturierung von Raum, Zeit und Aktivitäten ist vor allem eine gleichbleibende Umgebung wichtig.
„Wenn hier jemand ein neues Bild aufhängen würde, kann das bei unseren Bewohnern schon zu aggressivem Verhalten führen”, erzählt Judith Schmetzer. Auch Rückzugsräume sind enorm wichtig. Daher haben die 23 männlichen und ihre einzige weibliche Mitbewohnerin neben einem eigenen Zimmer jeweils auch ein Badezimmer. Geteilt wird sich in jeder der insgesamt acht Wohngruppen lediglich eine große Küche, die auch als Gemeinschaftsraum genutzt wird.
So klar wie das Wohnheim ist auch die gegenüberliegende Werkstatt strukturiert. Hier arbeiten derzeit mehr als 30 Menschen in den Bereichen Hauswirtschaft, Gartenarbeit und Montage. In den hauswirtschaftlichen Räumlichkeiten wird das Mittagessen zubereitet, gebacken, aufgeräumt oder der Müll getrennt. Nebenan in der Montageabteilung wird fleißig verpackt, gezählt und zusammengesteckt. Sogar Aufträge für den ersten Arbeitsmarkt werden hier ausgeführt.
Größtenteils kahle Wände in der Werkstatt
Mitarbeiter Danny Dedecke hat richtig Spaß an seiner Arbeit. „Mir gefällt es sehr, Assistent bei den Aufgaben zu sein“, betont er und zeigt auf eine selbst gebastelte Steckhilfe. „Hier ist nämlich Kreativität gefragt.“ Die größtenteils kahlen Wände der Werkstatt und ihre geräuscharme Kulisse wirken auf den ersten Blick etwas unpersönlich, letztendlich sind sie aber eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Beschäftigten nicht durch ihre Umwelt abgelenkt werden.
Wer lieber an der frischen Luft arbeitet, macht sich im Gartensektor nützlich. Hier wird das Außengelände des Zentrums gepflegt und in den Gewächshäusern und Beeten sogar eigenes Gemüse angebaut. In den kälteren Monaten sorgen die Beschäftigten dann für ein winterfestes Gelände, pflanzen Blumenzwiebeln ein, oder verpacken Saatgut.
Judith Schmetzer beschreibt die Bewohner am liebsten mit einem Wort: „bezaubernd“. „Hier hat jeder einen ganz individuellen Charakter, das macht die Arbeit trotz Herausforderungen sehr spannend“, sagt sie. „Meistens kann ich auch noch etwas lernen, denn viele Bewohner haben ein ganz spezielles Hobby.“
So wie Felix. Der bastelt und fotografiert nach Feierabend am liebsten alles, was mit Gasthermen und Rohren zu tun hat. Für ihn konnte durch das Zentrum endlich etwas einkehren, wonach sich viele Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung sehnen: Geborgenheit.