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Der Wind und die Königin

Post aus der Lutherstadt. Uwe Baumann war in Wittenberg unterwegs

Von Uwe Baumann

Sturmwind biegt die Haare nach hinten und fegt durch die Collegienstraße der Wittenberger Altstadt wie ein Stoßtrupp der Stadtreinigung auf reichlich Koffein. Die Touristen verkrümeln sich in die schicken Cafés links und rechts, auf Außengastronomie sind jetzt nur noch die Härtesten scharf – meine Frau und ich. Als Berliner haben wir einen Ruf zu verlieren, wir sitzen immer draußen. Auch am Polarmeer, wenn es sein muss. Draußen gibt es Kännchen und immer was zu gucken. Seit Corona ist Draußen ohnehin das neue Drinnen. Hier jedoch, im Wittenberger Windkanal, sind die Darbietungen der vorbeitreibenden Passanten – irgendwas zwischen Breakdance und freier Äquilibristik – nicht mit Geld zu bezahlen. 

Der Sturm rüttelt an Fenstern und Dachgebälk im einstigen Augustinerkloster und dem Wohnhaus ­Luthers. Der ist allgegenwärtig in Wittenberg, er und Lucas Cranach der Ältere und Philipp Melanchthon ­sowieso. Die Liste aller Bürgerinnen und Bürger, die einst in Wittenberg lebten und ihre Namen mit der ­Reformation verknüpften, ist lang. Ebenso wie die vielen musealen Wege treppauf und treppab durch Kirchen, Säle, Kammern und Gänge. 

Dielen knarzen, besonders laut im alten Lutherhaus. Mir fällt auf, dass meine Frau beim Laufen keinerlei Geräusche erzeugt. Die fietschenden und wehleidig jammernden Holzbretter sind allein mein Werk, sie jaulen ein monotones Requiem zu leichtfertig angefutterten Coronapfunden. Und biegen sich, wie wohl einst bei Luther, der irgendwann mindestens Kleidergröße XXL trug. Meine Frau schreitet durch die Räume, lautlos, wie schon erwähnt, ich marodiere wie ein mobiler Gemischtwarenhändler hinterher und bin – begeistert. Das Lutherhaus ist das größte reformationsgeschicht­liche Museum weltweit. Wunderschön, einladend, großzügig, kostbar. Eingebettet in eine aufwändig restaurierte Altstadt, mit freund­lichen Menschen, die ausgerechnet heute vor Sturmböen flüchten. 

Der Wind, das himmlische Kind, bläst uns den Kopf frei. Während wir über große Wiesen zur Elbe gelangen, läuft meine Frau ein paar Meter vor mir. Kopf nach oben, manchmal sogar mit geschlossenen Augen. Und genießt den wilden Ringkampf aus Wolken, Sonne und stürmischer ­Urgewalt. Sie sieht jetzt aus wie eine Königin vor ihrer Stadt. Stolz, still und kraftvoll. So wie hier in Wittenberg habe ich sie noch nie gesehen. Von Gott, der allgegenwärtigen Kraft der Liebe, hingestellt. Und in diesem Augenblick nur für mich, den lauten Gemischtwarenhändler.