Wie jeder Athlet und jede Athletin musste Alfonsina Strada (1891-1959) in ihrem Leben Grenzen überwinden. Vor allem jene, die sie als Frau aus der Welt des Radsports fernhalten wollte: Vor 100 Jahren, im Jahr 1924, hat sie als erste und einzige Frau am Radrennen Giro d’Italia teilgenommen – was eigentlich nur Männern vorbehalten war.
Ihre Nichte Anna Morini hat dem Sender „Eurosport“ erzählt, wie die Liebe der Tante zum Zweirad entstanden ist: „Mein Großvater Carlo kam eines Tages mit einem Fahrrad nach Hause, als Lohn für seine Arbeit. Alfonsina nahm das Fahrrad, verliebte sich in es und hat es danach einfach nicht mehr losgelassen.“ Schon das war eine Revolte. Schließlich galt es damals noch als obszön, wenn ein Mädchen Fahrrad fuhr – nicht nur in der kleinen norditalienischen Gemeinde Castelfranco Emilia, wo Alfonsina Morini am 16. März 1891 zur Welt kam.
Schon als Jugendliche fährt Alfonsina bei Radrennen mit. Sie ist so erfolgreich, dass sie 1909 zum Grand Prix von Sankt Petersburg eingeladen wird. Als sie 1915, im Alter von 24 Jahren, den Radsportler Luigi Strada heiratet, hofft ihre Familie, dass sie fortan ein „normales“ Leben führt. Das Gegenteil tritt ein. Ihr Mann unterstützt die Sportlerin auf ganzer Linie, fördert und ermutigt sie.
1917 ist Alfonsina Strada unter den 54 Startern, die beim Giro di Lombardia antreten, einer Radrundfahrt in der norditalienischen Lombardei. Während des Ersten Weltkrieges nimmt man es nicht so genau mit dem Teilnehmerkreis, denn eigentlich ist die Strecke ebenfalls Männern vorbehalten. Sie wird Letzte. Als sie ein Jahr später erneut antritt, schafft sie es auf Platz 21.
Sie trägt nun bereits den Spitzenamen „il diavolo in gonnella“, der Teufel im Rock. Ihr größter Traum ist es, beim Giro d’Italia anzutreten, dem berühmten Etappenrennen durchs ganze Land. Wie sie es dann vor 100 Jahren genau geschafft hat, tatsächlich für das Männerrennen zugelassen zu werden, dazu gibt es unterschiedliche Geschichten.
Klar ist: 1924 hat der Giro d’Italia erhebliche Probleme, genügend Teilnehmer von Rang zu gewinnen. Viele der damaligen Radsport-Größen wie Costante Girardengo oder Giovanni Brunero weigern sich, da sie das Preisgeld als zu gering erachteten. Alfonsina Strada meldet sich an. Und erhält die Zusage.
Schon in den Jahren zuvor, so berichtet das Global Cyclist Network (GCN) Italia im Rückblick, hatte Strada sich beworben – und wurde immer wieder abgelehnt. Ob die Zusage 1924 der Nachlässigkeit oder der Gutmütigkeit der Organisatoren zuzuschreiben ist, kann heute nicht mehr geklärt werden. Die gängigste These: Wegen der zahlreichen Absagen der Stars der Szene suchte man nach einem Namen, mit dem man das Rennen doch noch in den Fokus der Öffentlichkeit rücken konnte.
Beim Start wussten die Organisatoren jedenfalls, dass Alfonsina Strada eine Frau ist. Nach acht von zwölf Etappen des extrem harten Rennens scheidet sie offiziell aus der Wertung aus, weil sie die maximal vorgegebene Zeit nicht einhalten konnte. Doch sie darf weiterfahren. Die Veranstalter brauchen sie: Die Frau mit den kurzen dunklen Locken wird vom Publikum gefeiert wie geschmäht, sorgt aber auf jeden Fall für Schlagzeilen – und damit für Werbung für den Giro.
Als sie in Fiume ankommt, gibt sie eine Erklärung ab. Eine Frau, die Fahrrad fährt, sei möglicherweise nicht besonders ästhetisch und anmutig, sagt sie und fügt – auf die Strapazen des Rennens bezogen – hinzu: „Ich war noch nie schön. Jetzt bin ich ein Monster.“ Aber was solle sie tun, wie ihr Geld verdienen? Als Prostituierte, wie ihr manch einer vom Wegesrand zugerufen habe?
Ihr Mann ist zu dieser Zeit krank, befindet sich in einer psychischen Einrichtung, ihre Tochter lernt im Internat – „das mich zehn Lire pro Tag kostet“, wie Strada sagt. Sie stellt fest: „Manche mögen mich verspottet haben, aber ich bin zufrieden und weiß, dass ich es gut gemacht habe.“
Als 31. Teilnehmerin beendet Alfonsina Strada den Giro d’Italia in Mailand, 17 Stunden nach dem offiziell letzten Teilnehmer der Wertung. Nach 3.613 Kilometern auf dem Fahrrad, nach Stürzen, nach Demütigungen – nie mit dem Ziel, ein Spitzenergebnis einzufahren, aber allen zu zeigen, dass eine Frau schafft, was ein Mann schafft.
Ein weiteres Mal wird Alfonsina Strada nicht mehr zum Giro d’Italia zugelassen. Sie macht dennoch Karriere, nimmt an Show-Rennen teil und stellt 1938 einen Stundenweltrekord für Frauen auf: 32,58 Kilometer in einer Stunde. Dieser wird erst 1955 von Tamara Nowikowa geknackt und auf 38,473 Kilometer verbessert. Aktuell hält ihn wieder eine Italienerin: Vittoria Bussi schaffte im Oktober 2023 im Velódromo Bicantario in Mexiko 50,267 Kilometer. Auch ihr hat Pionierin Strada den Weg geebnet.
Alfonsina Strada starb 1959 an einem Herzinfarkt. Einen Giro d’Italia der Frauen gibt es erst seit 1988.