Artikel teilen

Der Nachtgesang der Glocken

In St. Severin in Schwefe wird an den Sonntagen in der Advents- und Weihnachtszeit die Tradition des Beierns gepflegt. Dabei werden die Glocken von Hand angeschlagen. Dieser Brauch in Schwefe geht auf eine alte Legende zurück

Alles eine Frage des Gleichgewichts. Wie so oft im Leben. Alexander Baimann hat den linken Fuß in die Kette eingehängt und sucht mit dem Standbein nach Halt. In beiden Händen hält er Seile, die mit den Glocken verbunden sind. Jetzt heißt es, den richtigen Rhythmus, die Melodie  zu finden. Beinahe tänzerisch bewegt sich Baimann in der bitteren Kälte der Kirchturmspitze von St. Severin und bringt drei Glocken gleichzeitig zum Schwingen und Klingen: Der Nachtgesang der Glocken von Schwefe.
Diese hunderte von Jahren alte Technik des Glockenläutens nennt man Beiern: Die Kirchenglocken werden von Hand angeschlagen. Dabei werden die Klöppel über Seilzüge per Hand und Fuß gegen den Schlagring – die dickste Stelle der Glocke – geschlagen.

In Westfalen in Vergessenheit geraten

Während das Beiern vor allem im Rheinland noch in zahlreichen Kirchengemeinden als beliebte Tradition zur Adventszeit gepflegt wird, ist es in Westfalen mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Das galt lange Zeit auch für das kleine Dorf Schwefe in der Soester Börde. Aber seit 1988 klettern alljährlich wieder junge Männer an den Sonntagen in der Advents- und Weihnachtszeit über die in fast neun Jahrhunderten ausgetretenen Steinstufen sowie steile Leitern in den Turmhelm. Dort beiern sie, was ihre Kräfte hergeben.
Dass dieser Brauch in Schwefe weiter hochgehalten wird, ist dabei nicht nur jungen Männern wie Alexander Baimann, Malte Weber oder Philipp Lohmann zu verdanken, sondern vermutlich auch der besonderen Legende, wonach das Beiern nämlich seinen Ursprung einer dramatischen Winternacht vor vielen hundert Jahren verdankt.
Damals war eine Nonne aus dem etwa fünf Kilometer entfernt liegenden Kloster Paradiese nach Schwefe geeilt, um einer erkrankten Bauersfrau zu helfen. In einer 1923 von Martha Fromme für den „Soester Heimatkalender“ geschriebenen Geschichte (Titel: „Die Totenglocke rettet die Nonne“) heißt es dazu: „Heilsame Kräuter, lindernde Salbe und stärkenden Wein hatte sie zu sich gesteckt; denn es war nicht das erste Mal, daß sie auf ähnlichen Wegen ging und sie wußte, was Not tat.“
Auf dem Rückweg zum Kloster hat sich die Nonne in den damals dichten Wäldern der Börde verlaufen und hatte wohl schon mit ihrem Leben abgeschlossen: „Keine Rettung, kein Lichtlein weit und breit, nur grausam-starrer, todbringender Winterwald! In ihrer Verzweiflung kauerte sie sich schließlich nieder und begann mit zitternder Stimme die ihr bekannten lateinischen Sterbegebete zu flüstern.“
Doch da – oh Wunder – hörte sie plötzlich ganz zart die Glocken von St. Severin, die der Pfarrer nach seiner Rückkehr aus einem „Sterbehaus“ hatte läuten lassen. Der Rest ist schnell erzählt: Die Nonne orientierte sich am Klang der Glocken und wurde gerettet. Aus Dankbarkeit, so will es die Legende, „hat das Kloster für die Rettung in dieser adventlichen Winternacht den Nachtgesang der Glocken gestiftet, und zwar nicht nur für St. Severin in Schwefe, sondern auch für die benachbarten Pfarrkirchen in Borgeln und Ostönnen“.
Historiker gehen davon aus, dass es sich bei besagter Stiftung um ein materielles Vermächtnis gehandelt hat; vermutlich um ein Stück Land, das von der Dorfgemeinschaft bewirtschaftet wurde.
In jedem Fall haben sich die Schwefer durch diese Tat und diese Sage „angestiftet“ gefühlt, das Beiern hochzuhalten. „Einige Jahre wurde mit dem Brauch ausgesetzt“, weiß Kirchmeister Wilfried Eickhoff. Warum? Das weiß keiner so genau. Vermutlich hat es an jungen Männern gefehlt, die sich für das Beiern begeistern ließen. Seit 1988 aber gehört das traditionsreiche Glockenschlagen wieder zum festen Programm in der Advents-und Weihnachtszeit. Damals war Wilhelm Baimann Kirchmeister und hat dafür gesorgt, dass diese alte Tradition wieder auflebt.
Für seinen Enkel Alexander Baimann und seine Mitstreiter ist das Beiern in jedem Fall eine ganz besondere Ehre: „Darauf freut man sich fast das ganze Jahr.“ Direkt nach dem 18-Uhr-Geläut machen sie sich sonntags auf in den Glockenstuhl. Meist dürfen auch noch  ein oder zwei Konfirmanden mit hoch. Nachwuchsförderung. Mehr haben in der Enge des Kirchturms keinen Platz.
„Das hat natürlich auch Sicherheitsgründe“, erklärt der Student Alexander Baimann. Denn so ganz ungefährlich ist das Beiern nicht. Nicht nur der Aufgang über die ausgetretenen Steinstufen und die drei Leitern hat es in sich. Auch oben muss man jeden Schritt sorgsam setzen, um sich nicht den Kopf am Stahlgerippe einzuschlagen oder in eine der Ketten zu geraten, die die Glocken bewegen.
Ganz wichtig: Ohrenschützer. Baimann: „Ohne die geht gar nichts.“ Vor allem die beiden „Dicken“, wie die großen Glocken genannt werden, sorgen für reichlich Dezibel, wenn sie erst einmal angeschlagen worden sind. Für die Konfirmanden Jordi Bolz und Mathes Osterhoff, die dieses Mal mit hoch durften, ist das Beiern so etwas wie ein Ritterschlag: Wer beiert, ist in jedem Fall ein echter Schwefer.
Nachdem Baimann, Lohmann und Weber kurz die Technik erklärt und eine erste Runde Glockengeläut klangvoll in die Schwefer Nacht gebracht haben, dürfen sich auch die Konfis versuchen, die sich mächtig ins Zeug legen. Naturtalente.

Konfirmanden haben sich gut geschlagen

Zehn bis 15 Minuten dauert das Ganze. „Gut gemacht“, lobt Baimann, während das Nachbrummen der Glocken noch für angenehme Vibrationen in der Magengegend sorgt. Vielleicht wird einer der beiden Konfirmanden in den nächsten Jahren selbst an den Adventssonntagen regelmäßig in den Kirchturm steigen. „Hat auf jeden Fall Spaß gemacht“, meint Mathes Osterhoff. Er kann sich durchaus vorstellen, dass es nicht nur bei der Premiere bleibt.
Derweil haben im Kirchenschiff zahlreiche Bürger des 750 Einwohner zählenden Dorfes dem Beiern gelauscht. Andere treten vor ihre Haustür und hören dem Glockenspiel zu. Für die meisten Schwefer ein unverzichtbarer Bestandteil der Adventszeit.