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Der Mann, der sich fürs Eis erwärmt, damit es nicht schmilzt

Inzwischen hat der Winter den Alpengletschern eine schützende Decke verpasst. Doch ob der Neuschnee ihnen hilft, die immer wärmeren Sommer zu überstehen, ist zweifelhaft. Weswegen Forscher nach Hilfen suchen.

Felix Keller tüftelt an Möglichkeiten, schmelzende Gletscher zu retten. Und sagt dennoch über die einst stolzen, nun rapide schwindenden Eisfelder seiner Schweizer Heimat: “Die würde ich – wenn’s nicht anders geht – sterben lassen; da bin ich knallhart.” Wie das? Hatte Keller doch auf einem Gletscherrest im Oberengadin erfolgreich schon eine Testanlage installiert: MortAlive, die weltweit erste Ingenieur-Vorstudie zu einem Gletscherpflege-Projekt.

Ja, das Pilotprojekt habe funktioniert, sagt der Glaziologe – also Schnee- und Eiskundler – im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Während Gletscherreste inzwischen sommers gut mit weißen Fleecedecken aus recyceltem Polypropylen geschützt werden können, brauchen größere Gletscher anderen Schutz. Sie müssten mit einer ausreichend großen Schneedecke eingehüllt werden, um nicht zu stark zu schmelzen.

Das von Keller und seinem Team entwickelte Prinzip ist relativ einfach und kostet keine zusätzliche Energie. Aus einem Schmelzwassersee weiter oben am Berg fließt Wasser per Leitung abwärts in sogenannte Schneekabel, die parallel über den Gletscher gespannt werden. Aus diesen perforierten Schläuchen sprüht Wasser mit rund 20 bar Druck – und rieselt bei passenden Temperaturen als Schnee auf den Gletscher.

Der Morteratschgletscher im Oberengadin etwa schrumpfte in den vergangenen 170 Jahren um drei Kilometer; zuletzt waren es 44 Meter pro Jahr. Wenn durch solches Schmelzwasserrecycling nun genügend Schnee produziert wird, um zehn Prozent der Fläche im Sommer schneebedeckt zu halten, wäre der Gletscher vor dem Abschmelzen geschützt. Unter heutigen klimatischen Bedingungen würde nach zehn Jahren seine Länge sogar wieder zunehmen, haben Keller und sein Partner Johannes Oerlemans von der Uni Utrecht berechnet.

Zwei Millionen Franken für ein erstes großes Projekt aufzutun, sei zwar schwierig, aber nicht aussichtslos, meint Keller. Derzeit sucht er Finanziers. Traditionelle Skigebiete haben durchaus Interesse an künstlichen Beschneiungsanlagen. “Das wäre lukrativ, aber die wollen keine Versuchskaninchen sein”, sagt der Glaziologe. Mit zweien ist er derzeit im Gespräch.

Wenn das alles nicht klappt, würde er die Gletscher verschwinden lassen? Ja, sagt der Visionär. Immerhin ist der Gletscherschwund sehr weit fortgeschritten. Allein 2022/23 verloren die Schweizer Gletscher zehn Prozent ihres Eisvolumens – so viel wie zwischen 1960 und 1990. Kellers wichtigstes Argument, trotzdem weiterzumachen: Andernorts sei der Erhalt von Gletschern viel wichtiger. Und deren Zustand sieht laut World Glacier Monitoring Service kaum besser aus.

Im Himalaya und in den Anden etwa sichern Gletscher – anders als in der Schweiz – die Trinkwasserversorgung vieler Millionen Menschen. Allein im Himalaya-Gebiet könnte die Trinkwasserversorgung für bis zu 220 Millionen Menschen binnen weniger Jahrzehnte knapp werden, hat der Glaziologe Hamish Pritchard berechnet. Weswegen Keller und Oerlemans auf einen Aufsatz in der Wissenschafts-Zeitschrift “Nature” eine Anfrage aus Indien erhielten.

Dort versucht Sonam Wangchuk im Ladakh am Südostrand des Himalayas dem Gletscherschwund mit einer anderen Konstruktion zu begegnen. Wasser aus Bergseen fließt talabwärts in senkrecht errichtete Rohre, aus denen es oben herausregnet und winters und nächtens zu einer Art Pyramide gefriert. Das Schmelzwasser dieser Eis-Stupas bewässert Felder, tränkt Mensch und Vieh. Wangchuk und Keller fanden zusammen; inzwischen gibt es gemeinsame Projekte und einen jährlichen Studentenaustausch zwischen Ladakh und Engadin.

Trotz aller Schwierigkeiten versprüht Felix Keller weiterhin Begeisterung für das Anliegen des Klimaschutzes. Mit dem Unternehmen Glaciervision GmbH bietet er einerseits praktische geologische und glaziologische Dienstleistungen; andererseits wollen er und seine Mitstreiterinnen Menschen für Gletscher- und Klimaschutz begeistern. Keller befasst sich auch mit Motivationsforschung, hatte unter anderem jahrelang einen Lehrauftrag für “Fachdidaktik und Weltlehre”.

Neben allen naturwissenschaftlichen Fakten, sagt der Wissenschaftler, brauche nachhaltiges Umwelthandeln vor allem Begeisterung, Freude, konkrete Möglichkeiten zur Umsetzung sowie einen langfristigen festen Willen. “Unser Ziel ist es, unvergessliche Erlebnisse in den Bergen zu bieten, während wir uns für den Erhalt der Natur einsetzen.”

So sind Bergwanderungen und Gletscher-Konzerte seiner “Swiss Ice Fiddlers” eines von mehreren Angeboten. Es sei eine Gratwanderung, ernsthaft über die Probleme zu sprechen, ohne lähmende Weltuntergangsstimmung zu erzeugen. “Mein Traum wäre es, Klimaschutz zu einem Trend machen zu können, dass er nicht bloß Zwang ist”, sagt Keller. “Mit einem Trend hätten wir erstens eine riesige Freude dran und zweitens erreichen wir das Ziel auch.”