Ambitioniert nähert sich Tilman Singer dem Horrorfilm-Genre. Manchmal schießt der Regisseur über das Ziel hinaus. Einen durchgehend starken Part hat dagegen Hauptdarstellerin Hunter Schafer.
Ein elterlicher Streit wirft im Prolog einen hässlichen Schatten an die Wand im Treppenhaus. Oben in ihrem Zimmer liegt ein Mädchen unter der Bettdecke, zitternd und bebend. Bald tritt es nach draußen, eine Großaufnahme fängt ein Ohr ein, das plötzlich zu zucken beginnt – das Mädchen hat Kontakt aufgenommen. Nichts hält es mehr in seinem vermeintlichen Zuhause. Es läuft in die Nacht, schon nach wenigen Sekunden hat das Dunkel es verschluckt. Es wird eine Weile dauern, bis man ihr wiederbegegnen wird in diesem Film.
Die Welt der Erwachsenen ist zum Davonrennen in “Cuckoo”. Solange man auf die sogenannten Erziehungsberechtigten angewiesen ist, bleibt nur die Wahl zwischen Regen und Traufe. Die Hauptfigur Gretchen (Hunter Schafer) hat eben erst, nach dem Tod ihrer Mutter, ihr amerikanisches Zuhause hinter sich gelassen und zieht nun nach Europa, zu ihrem Vater, dessen neuer Frau und ihrer Halbschwester Alma. Genauer gesagt zieht sie mit den dreien in ein neu entstandenes Ferienresort, an dessen Planung ihr Vater beteiligt ist. Herr König (Dan Stevens), der Chef des Resorts, grinst die Familie und ganz besonders Gretchen zur Begrüßung ausgesucht schmierig an. Keinen Millimeter weit darf man diesem Typ trauen, soviel steht fest. Auch Herr König wohnt dort oben im alpinen Nirgendwo, in einer ausladenden Villa.
Alles ziemlich sonderbar, aber eben auch fürchterlich fad, insbesondere für ein Teeniemädchen mit Lust auf Rockmusik, heiße, gierige Küsse und Abenteuer. Die schlaksige Gretchen kultiviert eine lässige Ein-Frau-Rebellion, wehrt alle Annäherungsversuche ihrer Umwelt gelangweilt ab, zieht sich mit Hilfe ihrer Kopfhörer in wuchtige Gitarrenklänge zurück, spielt mit ihrem Schmetterlingsmesser. Ihren Namen möchte sie, das versteht sich von selbst, amerikanisch ausgesprochen hören, also cool, streetsmart und entschlossen: “Gretschen”; keineswegs deutsch, hell und lieblich-jungmädchenhaft: “Greeeetchen”.
In dem bizarren Heimatfilm, in dem sie gelandet ist, fühlt Gretchen sich jedenfalls fehl am Platz. Der Job an der Rezeption des Resort-Hotels, den sie sich gleich nach der Ankunft angelt, könnte ihre Fahrkarte zurück in ein besseres Leben jenseits des Atlantiks sein. Aber ist es wirklich, wie ihre Kollegin meint, völlig normal, dass sich gelegentlich junge Frauen in der schäbigen, wie vieles im Film komplett aus der Zeit gefallenen Lobby übergeben? Keineswegs dürfe sie nachts allein nach Hause fahren, hatte ihr Chef Herr König ihr eingebläut. Aber Gretchen macht schon aus Prinzip nicht, was der schmierige Chef ihr vorschreibt.
Also steigt sie auf ihr Rennrad. Und radelt alsbald um ihr Leben. Das Grauen schleicht sich keineswegs langsam an in diesem Film. Ganz im Gegenteil kracht es ziemlich rabiat und effektbewusst in eine ohnehin schon adoleszent-labile Welt hinein, wirft seine grotesken Schatten erst dann voraus, wenn es einem schon hautnah auf den Fersen ist.
Außerdem verbiegt es Raum und Zeit, und es produziert Töne, die man als Zuschauer nicht hört, oder jedenfalls nicht differenzieren kann, und die das Bild pulsieren lassen. Es trägt vorderhand das Gesicht einer Frau mit blassem, zur Fratze verzerrten Gesicht und blondem Haar, aber Gretchen erkennt schnell, dass sie es nicht mit einer dahergelaufenen Verrückten zu tun hat. Vielmehr ist sie gegen ihren Willen in ein Spiel geraten, aus dem man nicht mehr aussteigen kann, solange man seine Regeln nicht versteht.
Ziemlich großartig ist Tilman Singers “Cuckoo”, einer der ambitioniertesten Horrorfilme deutscher Produktion der letzten Jahre, solange er sich ganz auf die durchaus vielfältigen Erfahrungsdimensionen seiner Hauptfigur konzentriert. Wie ein scheues Tier schaut die großartige Hunter Schafer, bekannt geworden durch ihre Rolle in der Jugendserie “Euphoria”, hinter den halblangen Haarsträhnen hervor, die ihr trotzig und widerspenstig ins Gesicht hängen.
Adoleszente Totalgenervtheit und markige, vermutlich aus dem Kino abgeschaute Souveränitätsmarkierungen – das Schmetterlingsmesser – verbinden sich mit einer gesteigerten Sensibilität für die Reizsignale der Umgebung. Das grün-dunkle Locken des Waldes (gedreht wurde auf analogem 35mm-Material; dem sanften Vibrieren der Nachtszenen sieht man das besonders deutlich an), die träge Passivität ihres Vaters, die aufdringlichen Finger des Herrn König, flirrende Geräusche, die niemand außer ihr wahrzunehmen scheint.
Man darf es durchaus ein bisschen bedauern, dass Singer es nicht dabei belässt. Also einerseits dabei, die Geschichte einer Jugendlichen zu erzählen, die sich in eine Welt geworfen findet, die sie nicht versteht und auch gar nicht verstehen will. Und andererseits dabei, diese Geschichte in eine Folge ziemlich spektakulärer Genrekino-Miniaturen zu übersetzen, die keineswegs schematisch gebaut sind und immer wieder überraschende Abzweigung nehmen. Sogar für eine mit voyeuristischen Blickkonstellationen spielende Brian-de-Palma-Hommage ist Platz in diesem Film.
Leider drängt sich mit zunehmender Laufzeit mehr und mehr die Frage nach dem Schrecken hinter dem Schrecken in den Vordergrund. Der Film buchstabiert die abstruse, in die Tiefen der Familiengeschichte Gretchens, aber auch der biologischen Gattungsgeschichte hineinreichende Verschwörung, der sich das Grauen, das die Hauptfigur heimsucht, verdankt, viel zu ausführlich aus. Was sich unter anderem darin niederschlägt, dass außer Gretchen und dem in seiner dauergrinsenden Abgründigkeit wirklich großartig überzeichneten Herrn König fast alle Figuren blass bleiben: bloße Funktionsträger, die erkennbar lediglich mit von der Partie sind, um diese oder jene Drehbuchwendung vorzubereiten.
Tatsächlich fühlt man sich in der zweiten Filmhälfte selbst ein bisschen wie Gretchen: Ständig bekommt man von irgendwelchen Langweilern Dinge erklärt, von denen man eigentlich gar nichts wissen will. Aus dem Kino fliehen muss man deshalb noch lange nicht. Die etwas schwerfälligen Erzählmanöver, die fast wie Anstandsdamen um die großartige Protagonistin herumplatziert werden, können gottlob nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tilman Singer einen der originellsten und mutigsten deutschen Filme der jüngeren Vergangenheit gedreht hat. “Cuckoo” ist ein Film, der zuallererst von der Schaulust her gedacht ist. Allein das ist viel wert.