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Der alte “Inspektor Barnaby” wird 80

13 Jahre lang spielte er als “Inspector Barnaby” die Rolle seines Lebens. Dabei hatte er mit dem steif-kontrollierten Ermittler nie etwas gemeinsam. Dennoch: John Nettles ist mit Tom Barnaby voll im Reinen.

In der so verschlafenen wie fiktiven Grafschaft Midsomer werden mehr Menschen ermordet als in Detroit oder Guatemala-Stadt. Angeblich soll sogar die Queen einmal nachgefragt haben, ob in dem Dorfidyll überhaupt noch genügend Bürger überleben. Doch die Zuschauer lieben Midsomer: seine verschrobenen Adligen, seine schnöseligen Cabrio-Fahrer, verlebten Jagdpächter und hitzigen Pfarrer; seine Steinbrücken, Glockenwettbewerbe, reetgedeckten Pubs und Seerosenteiche; all die Clubjacken, Golf-Pullis und Kochschürzen. Und mittendrin: der unverwüstliche Detective Chief Inspector (DCI) Barnaby mit seinem mal mehr, mal weniger trotteligen Assistenten.

In 13 Jahren “Midsomer Murders” hat John Nettles 81 Folgen lang den DCI Tom Barnaby gemimt; sich unzählige Male höflichst vorgestellt und dann verbindlichst durchermittelt. Und ein Mord kam nur selten allein: aufgespießt mit der Mistforke, erschlagen mit einem edlen Rotwein oder vergiftet mit AOC-Gourmetsuppe oder dem Lieblingssherry.

2011 übergab Nettles alias Tom Barnaby den Ermittlerstab an Neil Dudgeon (62) alias Barnabys fiktivem Cousin John weiter, hierher versetzt aus dem Seebad Brighton. Der Barnaby a.D., eigentlich sogar Shakespeare-Mime, widmete sich danach wieder dem Theater und betätigt sich als beachteter Lokalhistoriker. Am Mittwoch (11. Oktober) wird John Nettles, der Vielbegabte, 80 Jahre alt.

Geboren am 11. Oktober 1943 in Cornwall als Sohn einer irischen Krankenschwester, lernte er seinen Vater nie kennen. Die Zimmerleute Eric und Elsie Nettles adoptierten ihn; doch er fühlte sich früh zu den Geisteswissenschaften statt zum Handwerk hingezogen. Schon während seines Studiums der Geschichte und Philosophie in Southampton entdeckte er die Theaterbühne für sich.

Vor und auch während seiner erfolgreichen Zeit als TV-Ermittler war Nettles Mitglied der berühmten Royal Shakespeare Company. In den 80er Jahren spielte er zunächst zehn Jahre lang einen jungen Sergeanten auf der Kanalinsel Jersey. Dieser “Jim Bergerac” war so gar kein Barnaby-Typ: ein trockener Alkoholiker, schnittig-verwegen; mit privaten Problemen unterwegs, aber dafür auch in einem weinroten Roadster aus den 40er Jahren.

Weniger cool, aber dafür mit durchschlagendem internationalen Erfolg gelangen dann die Ermittlungen in Midsomer. Nettles machte den Tom Barnaby zur Kultfigur – auch wenn er selbst gar nicht recht versteht warum. Der ambitionierte Schauspieler Nettles hält Szenario und Charaktere eher für Abziehbilder; und Barnaby selbst für einen “stereotypen Engländer mit einer sehr, sehr steifen Oberlippe”.

Inmitten schrulliger Witwen, Waisen, Priester und Trunkenbolde, die sich gegenseitig auf abseitige Arten meucheln, gab Nettles ihm auch noch einen kontrollierten, fein dosierten Humor mit. Und er betont, er habe bewusst früh genug als “Barnaby” aufgehört. Das sei besser, als am Ende von der Bühne gebuht zu werden.

Auf Jersey dagegen büßte Nettles seine Bonuspunkte von “Jim Bergerac” wieder ein. Für seine BBC-Doku, die auch im ZDF lief, und für sein 2012 erschienenes Buch untersuchte er als Historiker die Rolle der lokalen Bevölkerung der Kanalinseln unter deutscher Besetzung im Zweiten Weltkrieg. Der damalige Premier Winston Churchill überließ die Inseln kampflos der Wehrmacht. Diese waren gezwungen, sich mit den Besatzern zu arrangieren – und taten das auch, etwa im Umgang mit Juden, Flüchtlingen und russischen Zwangsarbeitern. Solche Belege für Kollaboration kamen bei den heutigen Insulanern nicht gut an. Nettles, der Historiker, erhielt sogar Drohungen.

Dennoch legte er 2019 nach – und gab die Tagebücher des Geistlichen Douglas Ord aus der Zeit der Guernsey-Besetzung heraus. Danach folgte die Übersetzung des Tagebuchs von Hans Max Freiherr von Aufseß (1906-1993), Besatzungsoffizier und seit 1943 deutscher Zivilverwalter der besetzten Inseln. Sie erschien im Mai 2023.

Ansonsten lebt Nettles mit seiner zweiten Ehefrau Cathryn Sealey in der Nähe des Shakespeare-Städtchens Stratford-upon-Avon, zusammen mit Hühnern, Katzen, Hunden und sogar Alpakas und Eseln. Über die sagt er: “Wirklich tolle Tiere – allerdings ohne irgendeinen Nutzen. Sie schauen dich nur vorwurfsvoll an und machen jede Menge Mist. Aber sie bringen mich zum Lachen.” Einer Organisation, die notleidende Pferde und Ponys an neue Besitzer vermittelt, dient er seit 2014 als Schirmherr. Da wäre ja also doch eine Gemeinsamkeit von Nettles und Barnaby: die Liebe zum Landleben. Nur ohne Morde.