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Den Kopf verdreht

Über den Predigttext zum Sonntag Erntedank: Jesaja 58, 7-12

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Predigttext
7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne“.

Viele Menschen“ – so meinte der Dichter Nikolaus von Lenau – „suchen das Glück, wie sie ihren Hut suchen, den sie auf dem Kopf herumtragen.“ Und wer weiß  – so denke ich manchmal – vielleicht ist es mit Gott ganz ähnlich?  
Wenn es gut geht, ist der Erntedanktag eine Gelegenheit, dafür ein Gespür zu bekommen. Die Fülle der Schöpfung, die Gaben der Ernte, Frucht und Getreide, Brot und Wein im geschmückten Altarraum, die alten Strophen von dem Samen, den wir streuen und dem Gedeihen, das Gott dazugibt. Sie alle singen das schöne Lied, davon wie Himmel und Erde zusammengehören, wie sich das Lassen und Tun unserer Hände reimt auf Gottes Handeln.
Das haben wir nötig, denn allzu oft ist ja der Himmel wie vernagelt. Verse, Lieder und Predigten darüber, dass Gott nahe ist, gibt es mehr als genug, – aber Erfahrung damit gibt es wenig. Gotteshunger – und fast alles andere satt. Glaubensdürre – mitten im Überfluss. Und überall dieselben viel zu kleinen, viel zu großen Worte: „Wir sollten“ und „Ich müsste“. So viele Aktionen, so viel Mühe und so wenige Ergebnisse … „Warum fasten wir und du siehst es nicht an, warum quälen wir unseren Leib und du willst es nicht wissen“? (Jes 58,3). So klingt das im Jesajabuch wenige Verse bevor der Prophet den Blick der erschöpften und verdrießten Gottsucher Israels umkehrt und auf ihre Mitmenschen lenkt.
Den Hut, den man auf dem eigenen Kopf herumträgt – das ist das Vertrackte –, kann man selber nicht sehen. Aber die anderen sehen ihn und können ihn mir zeigen –  das ist ein Glück. Darum verdreht der Prophet den Zuhörenden buchstäblich den Kopf und verschiebt ihr Denken und Suchen weg vom eigenen Wohl und Wehe auf die Leiber und Herzen der anderen.
Nicht darum geht es, mir die Freude an den Gaben der Schöpfung zu verdrießen und in schlechtem Gewissen zu baden. Aber ich muss wissen, dass der Riss zwischen mir und meinem Nächsten und die Gräben von Arm und Reich, die überall in unseren Städten und zwischen unserem Kontinent aufklaffen, auch Risse und Gräben sind zwischen Gott und uns gotteshungrigen Christenmenschen der satten Länder und Kirchen des Nordens. Ich habe es nötig, das zu wissen, denn die Freiheit, die ich anderen vorenthalte, macht meine eigene Freiheit eng und die Lebensfülle, die ich nicht teile, wird eben dadurch mickrig und schal.
Um „Zwölf Uhr bin ich da“ hieß eine Kunstaktion, die mir wie ein Gleichnis vorkommt für das, was an Gemeinschaft und Veränderung möglich ist und wirklich wird, wenn Menschen das Mögliche tun und das Unmögliche denken.
Für eine Stunde am Sonntagmittag waren die Bewohner einer Straße, in der fast jeder mit sich allein is(s)t, geladen, ihren weiß gedeckten Esstisch mit einem Topf Suppe auf die Straße zu stellen. So entstand eine einzige – wie die Zeitung schrieb – „etwas schiefe“ Tafel, so lang wie die Straße. Weil nicht alle mitmachen wollten oder konnten, wurden die Lücken zwischen den Tischen wenigstens mit weißen Kreidestrichen verbunden. „Ich möchte“, so die Initiatorin „für einen Moment das Gefühl erwecken, dass wir alle an einem Tisch sitzen“. Zu Beginn und zum Ende läuteten die Glocken der nahen Kirche.
Die Brücke, die wir „zum Herz der Hungrigen und Elenden“ schlagen, ist Gottes Brücke zu uns. Die Lücke, die ich offenhalte, lässt mich zum anderen finden und die Ohnmacht die ich zulasse, lässt mich Gottes Macht spüren. „Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe hier bin ich.“ Hut ab und Gott sei Dank!