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Das Poesiealbum lebt weiter – Kindheitsrelikt und Kulturgut

Reime und Sinnsprüche in Schönschrift auf der einen – Glanzbilder, Fotos oder Zeichnungen auf der anderen Seite: Poesiealben waren lange heiß geliebt. Ein Rückblick zum “Tag der Poesie” an diesem Freitag.

“Dies schrieb Dir, liebe Nina, zur Erinnerung, Deine Mitschülerin Karin.” So personalisiert endeten die Eintragungen in Poesiealben meistens, auch noch Anfang der 1990er Jahre. Datum, Ort und Unterschrift durften nicht fehlen. Es wurde mit Füller in Schönschrift vorsichtig auf Hilfslinien geschrieben, die vorher mit dem Bleistift gezogen und nach dem Eintrag sorgfältig wegradiert wurden. Auf die daneben liegende Seite malte man liebevoll Herzchen oder klebte Glanzbilder und Sticker ein.

Nostalgiefaktor pur: das Poesiealbum, ein hübsch gebundenes, oft quadratisches Buch von 16 x 16 Zentimeter Umfang mit weißen Seiten, in das Zitate in Form von Reimen und Versen eingetragen werden können – oftmals Sinnsprüche und Lebensregeln. Es weckt bei seinen Besitzern und auch anderen Betrachtern heute Erinnerungen an die Kindheit, vielleicht an längst vergessene Mitschüler, Lehrer und vergangene Zeiten.

Auch im digitalen Zeitalter werden immer wieder Erinnerungen an Poesiealben geteilt. So schreibt eine Frau in einem Internetforum: “Ich hatte zwei Bücher, jeweils mit Stoffeinband: eins mit rot-grünen Schottenkaros und das andere war rosa mit hellblauen Blümchen drauf. Ich übte ewig Schönschrift, bis ich mich dann traute, in dieses Buch mit den vielen weißen Seiten zu schreiben.”

Stefan Walter hat über Poesiealben geforscht und für seine Dissertation mehr als 80 Alben gesammelt und untersucht. Er sagt: “Die Sprüche lassen Rückschlüsse auf die Wertvorstellungen der jeweilige Zeit zu.” So entdeckte der Soziologe Propaganda-Sprüche der Nationalsozialisten in Poesiealben der entsprechenden Jahre oder später Eintragungen, die den unterschiedlichen Wertewandel in Ost- und Westdeutschland zwischen 1949 und 1989 dokumentieren.

Während sich die Einträge in Ostdeutschland in den 1970er und 80er Jahren eher mit Arbeit, Leistung und Bildungsstreben beschäftigten, änderte sich in Westdeutschland langsam der Tenor, sagt Walter: “Das ging dann nicht mehr in die Richtung ‘Du sollst’, sondern ‘Du darfst Spaß haben'”. Als Beispiel nennt er den Spruch: “Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her”.

Er hat auch Unterschiede zwischen Einträgen von Männern und Frauen ausgemacht: “Männer benutzten eher Sprüche, die sich auf Leistung und Bildung bezogen; Frauen wählten eher altruistische Zitate.”

Die Geschichte des Poesiealbums reicht weit zurück. Sie beginnt mit dem studentischen Stammbuch im 16. Jahrhundert. Damals sammelten Studenten gewissermaßen Autogramme ihrer berühmten Lehrer in Form von Sprüchen, Bibelzitaten oder Widmungen. Später wurden die Texte nicht mehr nur in lateinischer Sprache, sondern auch auf Deutsch verfasst und die Tradition damit breiteren Schichten zugänglich.

Zwischen 1830 und 1850 wurde das Poesiealbum weiblich und jünger: Mädchen entdeckten diese Möglichkeit der Freundschaftsbezeugung und trugen es in die Schule.

Bewegend auch Poesiealben von jüdischen Kindern aus der Nazizeit – wie etwa das Buch von Ruth Oppenheimer aus Halberstadt, das sie dem dortigen Berend Lehmann Museum Jahrzehnte nach ihrer Emigration für seine Dauerausstellung stiftete. Es war dabei, als sie 1939 als Elfjährige mit einem Kindertransport nach England kam, und auch, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihrem Vater in die USA reiste. “Lebe glücklich, fröhlich, heiter, wie der Frosch am Blitzableiter”, schrieb ihr Kinderfreund Walter Beverstein 1939 hinein.

“Das Besondere an Poesiealben ist auch, dass der Eintrag handschriftlich erfolgte und auch mit einer Unterschrift versehen wurde”, sagt Walter. Erinnerungen an alte Lehrer, Freunde oder Großeltern, mit denen man keinen Kontakt mehr hat oder die vielleicht schon gestorben sind, bekommen einen besonderen Wert, wenn man nachliest, was sie einem mit auf den Weg gegeben haben.

“Der beste Spruch war von einem Mitschüler, in den ich damals (5. Klasse) sowas von verknallt war: In allen vier Ecken soll Glück drin stecken, Dein xxx…”, schreibt eine Userin in einem Online-Portal. Dieser Poesie-Album-Klassiker – (manchmal wurde das Wort Glück auch durch Liebe ersetzt) – wurde nicht einfach in das Album eingetragen, sondern die Wörter wurden aufgeteilt und auf die vier Ecken einer Doppelseite geschrieben, die Ecken anschließend umgeklappt.

Freundebücher von heute seien an Poesiealben angelehnt – und doch etwas anderes, sagt Soziologe Walter. “Es macht einen Unterschied, ob man eine leere Seite füllt oder vorformulierte Fragen ausfüllen muss.” Außerdem würden die Bücher heutzutage bereits im Kindergarten weitergegeben: “Das, was im Poesiealbum wichtig war – der handschriftliche Eintrag – ist hier ganz weggefallen: Denn Kindergartenkinder können noch gar nicht schreiben, die Eltern übernehmen stellvertretend den Eintrag”, so der Experte.

Vereinzelt werden Poesiealben heute noch geführt. “Zumindest bietet sie der Buchhandel noch sporadisch an”, sagt Walter. Und es gibt auch Sammler, die alte, mit Sprüchen gefüllte Poesiealben ersteigern. Walter selbst hat seine wissenschaftliche Poesiealbum-Sammlung mit 750 Alben des 18. bis 20. Jahrhunderts kürzlich der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar vermacht.