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Das Loch im Kalender

Die Tage nach der Wintersonnenwende galten unseren Vorfahren als Zeit des Umbruchs und der Unruhe. Davon zeugen viele alte Bräuche. Heute bieten diese Tage Gelegenheit, innezuhalten, Belastendes zurückzulassen und den Blick nach vorne zu richten

© epd-bild / Ralf Maro

Kaum sind die Geschenke ausgepackt und Gans, Plätzchen und Stollen vertilgt, kehrt nach Weihnachten der Alltag ein – oft schneller, als einem lieb ist. In früheren Zeiten ging man in der Zeit der sogenannten Rauhnächte zwischen Weihnachten und dem 6. Januar nicht so schnell wieder zur Tagesordnung über. Einst wurden die zwölf dunkelsten Tage im Jahreslauf – die Nächte nach der Wintersonnenwende – als besonders intensiv erlebt und mit bestimmten Ritualen begangen. Reste davon haben sich bis heute erhalten.

Am Ende fehlten zwölf Nächte im Jahr

Kälte, Winterstürme, Dunkelheit: Vielen Menschen erschien diese Zeit als bedrohlich und gefährlich. Hinzu kam das Gefühl, sich „außerhalb der Zeit“ zu befinden. Denn wurde ein Jahr aus zwölf Mondmonaten berechnet, wurde dieses „Mondjahr“ am Jahresende mit dem Sonnenjahr abgeglichen – elf Tage oder zwölf Nächte fehlten am Schluss.
„Der Kalender hatte ein Loch", bringt es der Brauchtumsexperte und katholische Theologe Manfred Becker-Huberti auf den Punkt, auch wenn er anders rechnet: Denn mit dem 25. Dezember und dem 6. Januar gab es einst zwei Termine, ein neues Jahr zu beginnen; statt „zwischen den Jahren“ müsste es vielmehr „zwischen den verschiedenen Jahresanfängen“ heißen. Diese zusätzlichen Tage nach der Wintersonnenwende galten als besondere Zeit des Umbruchs und der Unruhe. Einst glaubte man, dass die Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt seien, Dämonen und Geister von Verstorbenen über den Himmel zögen und die Grenzen zu anderen Welten fielen.
Gegen die unheilvollen Übergangskräfte galt es, sich zu schützen – am besten durch Täuschen und Austricksen, „indem man sich hinter undurchdringlichem Weihrauch verbirgt“, so Becker-Huberti. Deshalb seien die zwölf Abende eigentlich „Rauchnächte“, erläutert der Theologe den Begriff. Sie wurden genutzt, um Haus und Hof zum Schutz vor Dämonen auszuräuchern. Im südlichen Bayern wird um Weihnachten noch immer eine weitere Tradition gepflegt – so ziehen junge, mit unheimlichen Masken verkleidete Männer durch die Dörfer, um böse Geister zu vertreiben. Andere versuchten, die zwölf sogenannten Los-Tage – jeder Tag steht für einen Monat – zum Orakel für das kommende Jahr zu nutzen. Auch das beliebte Bleigießen an Silvester ist heute so ein Orakel.
Verbreiteter war die Segnung der Häuser – wenn die Sternsinger Anfang des Jahres wieder ihr „C+M+B" – Christus mansionem benedicat, Christus schütze dieses Haus – auf Haustüren schreiben. „Das war die Formel gegen Geister“, so der Theologe. Die Kreidezeichen seien noch ein Relikt zur „Geisterabwehr“. Dahinter stehe die alte Vorstellung, dafür Sorge zu tragen, „dass die bösen Geister nicht über unsere Türschwelle ins Haus kommen können“. Auch die lauten Böller an Silvester sollen Dämonen vertreiben.
Heute bietet sich die Zeit zwischen den Jahren an, Bilanz zu ziehen und nach vorn zu schauen: Die Münchner Heilpraktikerin Vera Griebert-Schröder rät dazu, die Zeit um den Jahreswechsel bewusst zu erleben und den Alltag hinter sich zu lassen. Die Buchautorin ist überzeugt, dass die Rauhnächte „eine ganz besondere Zeit“ sind. Sie rät, Belastendes – Streit, Schulden, Unordnung – zurückzulassen. So könne man sich besser „ausrichten, um unbelastet in das neue Jahr reinzugehen“.
Auch wenn man nicht an wundersame Mächte glaubt, die an den Rauhnächten aktiv sind – einen Gang runterzuschalten, innezuhalten, Jahresbilanz zu ziehen und sich neu zu orientieren kann nicht verkehrt sein. Viele Bildungshäuser laden „zwischen den Jahren“ zu einem besinnlichen Jahresausklang ein. Einmal mehr gilt, was Dietrich Bonhoeffer in seinem berühmten Neujahrslied formuliert hat: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag…“