Heiterer Film um einen Mann, der Bücher austrägt und sich mit einem traurigen Mädchen anfreundet. Vorlage war Carsten Sebastian Henns gleichnamiger Roman mit vielen Verweisen auf die (nicht nur) klassische Literatur.
Der titelgebende “Buchspazierer” heißt bürgerlich Carl Kollhoff (Christoph Maria Herbst) und trifft auf Schascha (Yuna Bennett), die mit ihrem Vater (Ronald Zehrfeld) jüngst in das Städtchen gezogen ist, in dem Kollhoff täglich auf Tour geht. Schascha ist aufgeweckt und neugierig. Sie hat große braune Augen, die auch hinter Brillengläsern wunderschön staunen oder herzerwärmend traurig gucken.
Sie entdeckt den mit einem riesigen Rucksack durch die Stadt gehenden Buchspazierer beim Blick aus ihrem Kinderzimmer. Carl Kollhoff ist über 70 und der älteste Mitarbeiter der Buchhandlung am Stadttor. Er kennt jedes Buch im Geschäft und hat sämtliche nach ihm eingestellten Mitarbeitenden eingeführt. Den Stammkunden hat er die Namen von Buchfiguren wie Effi Briest, Mister Darcy, Pippi Langstrumpf oder Captain Ahab zugedacht. Er weiß nicht nur, was sie lesen, sondern liefert ihnen ihre Lektüre auch frei Haus.
Kollhoffs Kontakt zu den Kunden ist allerdings strikt beschränkt. Er betritt keine fremden Wohnungen und stellt keine persönlichen Fragen. Seinerseits lebt er mutterseelenallein in einer bis unter die Decke mit prall gefüllten Bücherregalen zugestellten Wohnung.
Sein Umgang mit Büchern ist der eines Liebhabers. Bevor er ein Buch anfasst, bläst er in seine Finger. Bevor er ein Buch öffnet, streicht er sanft über dessen Umschlag. Wenn er ein Buch reinigt, tut er es mit sanften Pinselstrichen. Und wenn er Bücher zum Austragen fertig macht, schlägt er sie zunächst fein säuberlich in Papier ein und verstaut sie danach sorgfältig in seinen Rucksack: Es hat alles etwas von einem meditativen Ritual, was Christoph Maria Herbst mit großer Feinfühligkeit zelebriert.
Die Liebe zu Büchern ist das eine große Thema des Films. Nachdem Schascha Kollhoff beim Büchereinpacken heimlich beobachtet hat, stürmt sie nach Hause und erzählt, dass der Buchspazierer Bücher genauso behandelt wie ihre Mutter. Das Foto der Verstorbenen steht mit Lichterketten verziert auf einer alten Kommode. Ob er manchmal auch mit der Mama rede, will Schascha von ihrem Vater wissen. Der aber weicht aus.
Im Kern handelt “Der Buchspazierer” von Männern, die von ihren Frauen zurückgelassen wurden, und von einem ebenso im Stich gelassenen Mädchen, das allerdings den Blick für die Schönheit der Erde und die Neugier aufs Leben nicht verloren hat. Und so zeigt Ngo The Chau, der nicht nur Regie, sondern auch die Kamera führt, wie Schascha sich Kollhoff an die Fersen heftet und von diesem zurückgewiesen wird.
Schascha aber lässt sich so schnell nicht ins Bockshorn jagen. Wenn Kollhoff sagt, er gehe für gewöhnlich alleine auf die Tour, antwortet sie ihm, dann gehe sie eben alleine neben ihm her. Und wenn er erklärt, dass man Kunden nichts fragen und fremde Wohnungen nicht betreten dürfe, kontert sie, dass man fremde Wohnungen sehr wohl betreten dürfe, wenn man vorher gefragt hat. So viel Chuzpe erobert irgendwann selbst das Herz des kauzigen Kollhoff.
Doch es gibt in “Der Buchspazierer” noch einen zweiten Erzählstrang. Dieser handelt von Gentrifizierung, dem sozialen Wandel eines deutschen Städtchens und dessen Bevölkerung. Die Veränderung wird am Beispiel der “Buchhandlung am Stadttor” abgehandelt, die sich unter dem Regime einer neuen Chefin binnen weniger Wochen von einem gemütlich mit Büchern vollgestopften Laden in die gähnende Leere eines “Orange Book Entertainment Shop” verwandelt. Kollhoff wird im Rahmen dieser Modernisierung prompt vor die Tür gesetzt. Das lässt ihn und seine Beziehung zu Schascha in eine tiefe Krise stürzen, die sich aber wandelt, als sich Schaschas Vater einschaltet.
Christoph Maria Herbst und Yuna Bennett überzeugen und harmonieren im Zusammenspiel mit Ronald Zehrfeld; in weiteren Rollen sind Edin Hasanovic, Maren Kroymann, Tristan Seith und Hanna Hilsdorf zu sehen.
“Der Buchspazierer” ist mit gutem Auge für Menschen, Räume und Landschaften inszeniert und fotografiert. Die einzelnen Szenen sind in sich stimmig, einige vermögen auch zu berühren.
Für eine nur ansatzweise vertiefende Auseinandersetzung mit Schascha und ihrer Trauer ist hier aber ebenso wenig Platz wie für diejenige der sie umgebenden Personen, die in ihren Leben allesamt irgendwie festgefahren sind. Und vielleicht hätte es dem in allen Schlüsselpositionen rein von Männern besetzten Film gutgetan, wenn in der Geschichte über die Beziehung eines neunjährigen Mädchens zu Männern auch eine Frau mitgeredet hätte.